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Die Seestadt und die soziale Wohnbaupolitik

Von Hermann Knoflacher

Gastkommentare
Hermann Knoflacher ist emeritierter Professor am Institut für Verkehrswissenschaften an der Technischen Universität Wien.
© privat

Die Entscheidung für die Stadtstraße in Aspern widerspricht allen seit Jahrzehnten beschlossenen Zielen von Stadt Wien, Bund und EU.


Nun ist das letzte Protestcamp in der Wiener Donaustadt geräumt worden. Die Argumente, mit denen versucht wird, einen 3,2 Kilometer langer Autobahnappendix, genannt Stadtstraße, zu begründen, liegen außerhalb des verkehrsplanerisch Rationalen. Bautechnisch kann man alles begründen, um mit Beton, Asphalt, viel PS und wenig Personal viel Geld zu machen. Wenn davon aber Natur und Leben, das es auch unter der Erdoberfläche gibt - und zwar in der Lobau bis 600 Meter Tiefe nachweisbar - betroffen sind, müssen schlüssige Antworten auf sich ergebende Fragen gefunden werden.

Die Auftritte der einst engagierten Wiener Umweltstadträtin Ulli Sima (SPÖ) in ihrer neuen Funktion als Planungsstadträtin mit Vertretern von Wohnbaukonzernen und sozialem Wohnbau machen neugierig, warum es diese fachlich nicht erklärbare Allianz für einen Fahrbahnbau gibt. Immerhin geht es um 460 Millionen Euro unser aller Steuergelder. Da würde man eher eine Opposition erwarten.

Gemäß unserer Bundesverfassung dürfen öffentliche Mittel nur unter Nachweis von Zweckmäßigkeit, Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit verwendet werden. Egal, in welcher Reihenfolge, diese drei Begriffe treten immer gemeinsam auf und sind die Grundlage der Prüfungen der Rechnungshöfe. Es ist sozusagen deren Existenzberechtigung. Die Verbindung von Wohnungsbau und Autostraße, wie von der Stadt in die Öffentlichkeit getragen, zwingt geradezu zur Frage: Was könnte man mit 460 Millionen Euro im Wohnungsbau alles machen? Oder genauer: Wie viel Wohnfläche für Menschen gegenüber wie viel Bewegungsfläche für eine Mobilitätsform, die in Zukunft auf die Hälfte und später auf ein Drittel reduziert werden muss? Die Bodenversiegelung durch die Stadtstraße wird mit einem Drittel der Fläche des 8. Bezirks angegeben. Wenn das stimmt, sind das rund 30 Hektar (also 30 große Fußballfelder).

Wohnraum für 6.000 bis 18.000 Menschen

Um zu berechnen, wie viel Wohnungsfläche man um 460 Millionen Euro bauen könnte, können die Baukosten herangezogen werden. Diese haben im Wohnbau eine recht große Bandbreite, je nach Baumaterial, Ausstattung (Wärmedämmung, Tiefgarage etc.), Lage, Baugrundpreisen etc. Ein relativ aktuelles Beispiel aus dem Nachbarbezirk Floridsdorf für ein zur Idee der Seestadt passendes Objekt für 70 Wohneinheiten im Jahr 2005 hatte Gesamtinvestitionskosten von rund 1.500 Euro je Quadratmeter Wohnfläche. Die reinen Baukosten betrugen davon etwa 60 Prozent. Berücksichtigt man die Preissteigerungen seit 2005, kann man heute von Wohnbaukosten zwischen 1.500 bis 2.000 Euro je Quadratmeter ausgehen, bei großer "Stückzahl" wie in der Seestadt sowie Ziegel und Stahlbeton statt Holz als Baustoff eher etwas weniger. In der Seestadt besitzt die Stadt Wien ja den Baugrund, sodass diese Kosten für einen sozialen Wohnbau, von dem die Rede ist, entfallen; ebenso die Tiefgaragen, die mit rund 200 Euro die Wohnbaukosten belasten.

Bei 1.500 Euro je Quadratmeter kann man um 460 Millionen Euro also rund 300.000 Quadratmeter an Wohnflächen für Menschen errichten, bei 2.000 Euro sind es immerhin 230.000 Quadratmeter. Dass diese Werte mit der Fläche, die durch die Stadtstraße versiegelt würde, ziemlich übereinstimmen, sollte zu denken geben. Der spezifische Wohnflächenbedarf in den Städten liegt je nach Wohnungs- und Familiengröße bei 20 bis 40 Quadratmetern pro Person. Um 460 Millionen Euro könnte man also in Wien Wohnungen für 6.000 bis 18.000 Menschen errichten - fast so viele, wie im Endausbau der Seestadt leben sollen.

Die Stadtregierung sollte sich die Frage stellen: Gebe ich Steuergeld für die Bodenversiegelung und den Autoverkehr aus oder doch lieber für Wohnraum für Menschen? Ökologisch schneidet der Wohnbau, je nach Geschoßzahl, um den Faktor fünf bis zehn besser ab als die Stadtstraße, nimmt man Maß an der Geschoßzahl in der Seestadt. Er verbraucht um 80 bis 90 Prozent weniger Boden und hilft tausenden Menschen in ihrer Wohnungsnot. Außerdem beschäftigt der Wohnbau viel mehr Arbeiter als der Tunnel- und Autobahnbau und ist beschäftigungspolitisch sozialer.

Widerspruch zu ökologischer Stadtentwicklung

Die Entscheidung für die Stadtstraße ist nicht Sozialpolitik für Menschen, sondern bedient bloß die Bequemlichkeit der Spezies Autofahrer und widerspricht allen seit Jahrzehnten beschlossenen Zielen der Stadt sowie auch jenen des Bundes und der EU. Die Stadt Wien bricht mit der Entscheidung für die Stadtstraße auch mit ihrer international als Vorbild bekannten Tradition der sozialen Wohnbaupolitik und steht auch im Widerspruch zu einer ökologischen Stadtentwicklung. Aber auch die verfassungskonforme Verwendung öffentlicher Mittel bezüglich Zweckmäßigkeit, Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit wird nicht erfüllt. Wohnen als Zweck ist in einer normalen Wertehierarchie kultivierter Menschen ungleich höher im Rang als mit einem zu 80 Prozent unausgelasteten Pkw bequem herumzufahren. Die beiden anderen Kriterien begründen sich selbst.

Wie haltbar sind nun die Begründungen für die Stadtstraße? Auf der Website der MA 18 (Stadtplanung) findet man folgende Auflistung von Vorteilen: Für Aspern entstehe bis 2025 eine leistungsfähige Verkehrsanbindung, die einige Verbesserungen für die Donaustadt, weniger Staus und Verkehr in den Wohngebieten bringen werde; weiters einen Zeitgewinn durch eine leistungsfähige Verbindungsstraße; der Charakter der Donaustadt werde durch die Entlastung der Ortsteile hervorgehoben. Leider sind diese Argumente nicht nur falsch, sondern es droht sogar das Gegenteil.

Die Erhöhung der Geschwindigkeit des Verkehrs bringt keine Zeitersparnis, und zwar nicht nur bei uns, sondern weltweit. Es kommt nur zu einer Verlängerung der Wege und damit zur Auflösung lokaler Strukturen in Städten und noch mehr in Dörfern. Der Beweis: Wo man in Wien (und auch anderswo) den Autoverkehr reduziert, entstehen wieder lokale Geschäfte, und es ziehen wieder Menschen zu. Würden neue Fahrbahnen Stau vermeiden, dürfte es auf der Südosttangente mit ihren acht Fahrsteifen keinen Stau geben, sondern nur in den engen Innenstadtstraßen.

Dass man die neue Straße im Tunnel zu verstecken versucht, entspricht eher einer Vogel-Strauß-Mentalität, die von der Tunnellobby nicht nur in Wien zu einem erfolgreichen Geschäftsmodell ausgebaut wurde - zum Nachteil der Bürger und der Umwelt. Eine Unzahl besserer Alternativen für Verkehrslösungen in der Donaustadt wird aber einfach ausgeblendet.

Verlängerung der U2 bis zu einem riesigen Parkplatz

Eine davon, die zu den Zukunftszielen der Stadt passt, die Donaustadt und auch die Stadt Wien weiter aufwerten und Chancen für eine nachhaltige und klimaverträgliche Stadt- und Verkehrsplanung eröffnen würde, liegt praktisch auf der Hand. Nein, es ist keine Eier legende Wollmilchsau. Allerdings hängt sie mit einem der schwersten Fehler zusammen, die in der Seestadt passieren: der Riesengarage mitten in der Stadt, unmittelbar an der U-Bahnstation, "Seehub" genannt, die zum Umstieg vom Auto auf die U-Bahn anregen soll. Für eine klimagerechte autofrei Stadt ist diese Garage jedoch am falschen Platz, weil sie erst recht Autoverkehr in die Seestadt zieht.

Südlich der Seestadt liegt eine bereits dahinsiechende zukünftige Industriebrache, das Opel-Werk oder was davon noch übrig ist. Dieses ist an die Groß-Enzersdorfer Straße angeschlossen, die derzeit als "unerträglich belastet" durch die Stadtstraße entlastet werden soll. Nur liegt diese rund 1,5 Kilometer nördlich und verläuft parallel und ohne eine Verbindung zu der Straße, die sie auf wunderbare Weise entlasten soll.

Sinnvoll wäre eine Verlängerung der U2, die bisher in der Seestadt endet, um einen halben Kilometer. Die neue Haltestelle läge dann mitten auf dem riesigen Parkplatz vor dem Opel-
Gelände, auf dem rund 1.500 Pkw abgestellt werden können. Würde man auf dieser bereits versiegelten Fläche eine Hochgarage bauen - angepasst an den Bedarf -, läge der neue "Hub" an der richtigen Stelle, wo man nicht nur das bestehende Problem mildern und sanieren könnte, sondern noch folgende Wirkungen entstünden:
- Diese Alternative zur Stadtstraße würde die Seestadt vor dem Durchgangsverkehr schützen, der ihr durch die Stadtstraße droht.
- Der "Hub" läge dennoch nahe beim Zentrum von Aspern, die Verkehrsberuhigung würde die lokale Wirtschaft aufwerten.
- Die U2-Haltstelle läge in attraktiver Fahrraddistanz zu den umgebenden Gebieten.
- Sie würde eine Verbindung der ganzen Stadt mit dem Nationalpark Donauauen mit dem öffentlichen Verkehr und dem Fahrrad schaffen. Der Slogan "Die Stadt gehört Dir" - würde dann auch hier passen.
- Die U-Bahn würde zu Zielen der Stadt passen, die Wiener Wirtschaft zu stärken und nicht jene außerhalb der Stadt, wie es die Autobahnen tun.
- Diese Alternative würde eine kompakte zukunftsfähige Stadtentwicklung in der bisher sträflich vernachlässigten Donaustadt.
- Es käme auch zu einer wechselweisen Aufwertung der bestehenden und neuen Straßenbahnen durch die Potenziale der U-Bahn.
- Diese Verkehrslösung entspräche den Klimazielen, würde die Verkehrssicherheit erhöhen und den Stress im Verkehr verringern.
- Wien könnte damit werben, dass man mit der U-Bahn sozusagen direkt einen Nationalpark erreichen könnte, eine weltweit ziemlich ideale Situation im Städtewettbewerb.
-Die Lösung würde die Seestadt erweitern, und man könnte die Zerstörung der jahrhundertealten Gartenbetriebe durch rücksichtlose unbedachte Wohnlandwidmung stoppen und so die weitere Versorgung der Bevölkerung mit gesunden, lokalen Lebensmitteln sichern.

Warum kommt eine personell nicht unterbesetzte Stadtplanung mit Planungsdirektor und Millionen-Ausgaben für Beratung nicht auf so simple und fachlich solide zu vertretende Lösungen? Hängt das mit dem jahrzehntealten Gesetz "Geld mal Geist ist eine Konstante" zusammen. Dies wusste man noch, als der Geist die Mobilität bestimmte und die Menschen noch aufrecht über die Erde gingen: "Wer es nicht im Kopf hat, muss es in den Beinen haben." Das führt aber wieder zur Frage nach dem Geld und damit zu den PS der Autos, womit man wieder bei der Stadtstraße wäre. Und wer glaubt, das wäre ein Zirkelschluss irrt und möge bei Rupert Riedl oder in meinen Lehrbüchern nachlesen.