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Die kalte Progression und die Steuerreform

Von Martin Ertl, Susanne Forstner und Michael Reiter

Gastkommentare

Ist ein Nachbessern sinnvoll?


Durch den dramatischen Anstieg der Inflation auf den höchsten Stand seit fast 40 Jahren hat die Diskussion über die kalte Progression in den vergangenen Wochen erneut an Aktualität gewonnen. Den Anstoß zur Debatte gab im vergangenen Herbst zunächst die Ankündigung der ökosozialen Steuerreform durch die Bundesregierung, die neben dem ökologischen Umbau des Steuersystems auch eine Entlastung der steuerpflichtigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum Ziel hatte.

Im Zuge dessen wurde das Institut für Höhere Studien (IHS) mit einer Studie beauftragt, die den Effekt der kalten Progression seit der vergangenen Steuerreform (2015/2016) den steuerpolitischen Reformmaßnahmen im Beobachtungs- und Prognosezeitraum von 2016 bis 2025 gegenüberstellt. Berücksichtigt wurden dabei alle für das Lohn- und Einkommenssteuersystem relevanten Maßnahmen, wie die Einführung des Familienbonus Plus im Jahr 2019, die Corona-Entlastungsmaßnahmen im Jahr 2020 und die ökosoziale Steuerreform.

Auf der Basis einer für jedes Jahr geschätzten Einkommensverteilung wird das Steueraufkommen jeweils in unterschiedlichen Steuersystemen berechnet. Getrennte Berechnungen im unveränderten Steuersystem, in einem Steuersystem, welches alle Reformen berücksichtigt, sowie unter Anpassung aller nominalen Größen an die Inflation gewährleisten nicht nur eine genaue Identifikation der Wirkung der kalten Progression, sondern auch Aussagen über unterschiedliche Personengruppen.

Inflation bringt doppelte Belastung für Erwerbstätige

Die Botschaft der IHS-Studie war für die österreichischen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler sehr erfreulich. Ausgehend von den Inflationsprognosen vom Dezember desvorigen Jahres übersteigt die Entlastung durch die Steuerreformen bei weitem die Effekte der kalten Progression. Über den betrachteten Zeithorizont liegt die Nettoentlastung in Summe bei fast 10 Milliarden Euro. Für Familien mit Kindern ist sie am stärksten. Es profitieren vor allem die unteren Einkommen, in geringem Ausmaß aber auch die mittleren Einkommen und deutlich weniger die Spitzeneinkommen. Der negative Effekt durch die kalte Progression überwiegt die Reformen nur im obersten Prozent der Einkommensverteilung.

Der unerwartete Inflationsschub der vergangenen Monate hat das Bild allerdings drastisch geändert. Aktuell liegt die Inflation bereits bei 6,8 Prozent, und für das gesamte Jahr 2022 wird eine durchschnittliche Inflationsrate von 5,5 Prozent erwartet. Für die Erwerbstätigen in Österreich ergibt sich daraus eine doppelte Belastung. Weil die Lohnsteigerungen den Anstieg der Verbraucherpreise wahrscheinlich nicht vollständig kompensieren werden, erleiden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Reallohneinbuße. Wegen der größeren Nominallohnsteigerung bewirkt die kalte Progression trotzdem eine weitere Erhöhung des durchschnittlichen Lohn- und Einkommenssteuersatzes.

Um die unerwartet hohe Inflation des Jahres 2022 auszugleichen, schlagen wir in einem aktuellen Policy Brief des IHS eine sehr einfache Maßnahme vor: eine einmalige Anhebung der Tarifgrenzen des Lohn- und Einkommenssteuertarifs um den Prozentsatz der unerwarteten Erhöhung der Inflation, also etwa 3 Prozentpunkte. Diese Änderung ist schnell und unkompliziert durchführbar, bewirkt im Aggregat eine fast völlige Kompensation der zusätzlich entstandenen kalten Progression und betrifft alle Einkommensgruppen mit positivem Steuersatz.

Einmalige Tarifanpassung ist auf jeden Fall angemessen

Dies erscheint zum jetzigen Zeitpunkt besser als eine umfassende Kompensation der kalten Progression, die eine Anpassung aller nominalen Frei- und Absetzbeträge, also etwa des Familienbonus oder des Pendlerpauschales, involvieren und wahrscheinlich einen längeren politischen Diskussionsprozess erfordern würde. Zusätzlich könnten zielgerichtete Maßnahmen zur Entlastung von Personen mit geringen Einkommen beziehungsweise besonders hoher Inflationsbelastung gesetzt werden. Die Argumente für und wider eine dauerhafte, automatische Ausschaltung der kalten Progression in der Zukunft sind bekannt und werden durch unsere Überlegungen hier nicht berührt. Eine einmalige Tarifanpassung in der momentanen, recht außergewöhnlichen Situation ist aber auf jeden Fall angemessen.