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Macht darf keine Gewalt nötig haben

Von Peter Moeschl

Gastkommentare
Peter Moeschl war Vorstand der 2. Chirurgischen Abteilung der Krankenanstalt Rudolfstiftung und lebt als Kulturtheoretiker in Wien (Buchtipp: "Privatisierte Demokratie. Zur Umkodierung des Politischen", Verlag Turia + Kant).
© privat

Die Naivität des Pazifismus besteht in der Illusion, Konflikte friedlich lösen zu müssen, jene des Bellizismus hingegen in der Illusion, Konflikte gewaltsam lösen zu können.


Kürzlich hat der Schriftsteller Franzobel ein "Lob der Feigheit" verfasst. Ein wahrhaft mutiges Unterfangen angesichts des nicht nur bei uns entfachten Heroismus. Dieser hat in vielen, auch neutralen Staaten des Westens zu einer verbal hochgerüsteten Metaphorik der Empörung geführt und dabei einen breiten moralischen Konsens erzielt.

Natürlich kommt das alles nicht von ungefähr, hat doch der russische Präsident Wladimir Putin ohne aktuellen Anlass einen brutalen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen und sich allein schon dadurch ins Unrecht gesetzt - ein Unrecht, das an jedem Tag der Kampfhandlungen (mit all ihren Grausamkeiten und dem Leid der Bevölkerung) massenhaft anwächst. Bis hierher kann, ja muss man die öffentliche Empörung derer, die die Zustände in der Ukraine aus ihrer mehr oder weniger parteilichen Sicht anprangern, auch als Außenstehender teilen.

Allerdings bedeutet das keineswegs, dass die von Putin für die Durchsetzung seiner Interessen ergriffene Gewalt eine konkrete Analyse der zu ermittelnden Konfliktursachen erübrigen würde. Will man brauchbare Erklärungen für die aktuelle Situation gewinnen, darf man sich nicht die Mühe ersparen, nach den tieferliegenden Ursachen zu forschen. Schließlich kann man nur auf diese Weise die hier vorgeschobenen nationalen Mythen und andere Rationalisierungen adäquat analysieren, vom Einfluss des ökonomischen und militärischen Kontextes gar nicht zu reden.

All das scheint schwierig, sollte aber machbar sein. Es sei denn, man verfügt über eine pazifistische Sichtweise, nach der - zumindest in ihrer radikalen Version - jeder Einsatz kriegerischer Mittel an sich schon Schuld bedeutet. Dies deshalb, weil der eskalierende Exzess unmittelbarer Gewalt, der die Eigendynamik des Krieges bestimmt, der Idee von Rechtsstaatlichkeit als Grundlage der Menschlichkeit von vornherein widerspricht.

Kein Krieg kann gerecht sein

Akzeptiert man solch eine Sichtweise, die in ihrer allgemeinen Ächtung von Krieg und Gewalt sogar die juristisch gedeckte Notwehr in Frage stellt, so heißt das letztlich, dass es auch für den Fall von Selbstverteidigung keinen gerechten Krieg geben kann. Und das nicht nur, weil ein bestimmter Krieg aus seinen bestimmten Motiven heraus schuldhaft wäre (und ein anderer nicht), sondern weil jeder Krieg in Anwendung seiner an sich unmenschlichen Mittel von Beginn der Kriegshandlungen an schuldhaft werden muss. Ein Dilemma, das man nicht auflösen, aber dennoch über Begriffe wie Notwehr, Ausnahmezustand und dergleichen juristisch fassen und handhaben kann.

Das jedenfalls sollte man bedenken, wenn man sich in auswegloser Situation zu einem Einsatz kriegerischer Gewalt gezwungen sieht. Man muss handeln, ohne sich hinreichend rechtfertigen zu können - eine seit der Antike bekannte Tragik. Und da hilft es auch nicht, wenn man sich in der Suche nach der Rechtmäßigkeit einer gewaltsamen Auseinandersetzung bloß auf die Lösung der unterkomplexen Frage "Wer hat angefangen?" beschränken zu müssen glaubt.

Will man die Gewaltsamkeit eines Krieges ernsthaft vermeiden, so muss man den Krieg mit anderen, mit politischen Mitteln fortsetzen. Das ist eine Lehre des Kalten Krieges, die auf den ersten Blick dem Diktum des Militärwissenschafters Carl von Clausewitz, dass "der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" sei, zu widersprechen scheint, die aber bloß das permanente Wechselspiel von Krieg und Politik zum Ausdruck bringt. Und bekanntlich hat dies in Gestalt eines "Gleichgewichts des Schreckens" sogar längere Zeit funktioniert, wenn auch nur lückenhaft und über die Hinnahme von Stellvertreterkriegen.

Gewalt spürbar machen

Derartige Versuche, den Krieg in eine zivile Ordnung einzuhegen, können aber nicht dauerhaft erfolgreich sein. Dies lässt sich daran erkennen, dass jeder - auch ein zum Weltuntergang führender - Krieg seine abschreckende Wirkung immer wieder verliert. Gerade die direkte, die unmittelbare Gewalt des Krieges muss daher, um nachhaltig wirksam zu bleiben, immer wieder spürbar gemacht werden - und das heißt: auf unmenschliche Weise. Das lehren schon die bitteren Erfahrungen mit den in Zyklen von Gewaltexzessen verlaufenden "frozen conflicts".

An ihnen zeigt sich auch ein grundlegender Aspekt in der Beziehung von Macht und Gewalt: Jede Macht, die glaubt, sich durch unmittelbare Gewalt beweisen zu müssen, verliert allein schon dadurch ihre Autorität - und sei diese auch rechtmäßig. Das wusste bereits die frühe Aufklärung. Und es hat zur Folge, dass Macht, wenn sie langfristig akzeptiert werden soll, keinen gewaltsamen Beweis nötig haben darf. So gesehen lässt gerade die explizite Gewaltanwendung die Schwäche einer Macht erkennen. Es kommt nämlich darauf an, dass Macht in ihren Forderungen immer schon implizit, also unausgesprochen, wirksam werden kann. Zumindest müsste sie in der Lage sein, über eine bloße Drohung - also politisch - zu funktionieren. Und idealerweise sollte sich Macht durch intrinsische Motive der Selbstunterwerfung der Betroffenen legitimieren - man denke auch nur an das Konzept des Leviathan von Thomas Hobbes.

Sämtliche Erfolgsaussichten von Macht scheinen also an die Etablierung und Einhaltung des eigentlich menschlichen, des sprachlich-symbolischen Niveaus der Politik gebunden. Genügt das aber schon, um kriegerische Auseinandersetzungen verlässlich zu vermeiden? Leider nicht zwingend. Politik vermag mitunter sogar - etwa durch Einbeziehung psychischer Gewalt - das Spektrum der Gewalttätigkeiten erheblich zu erweitern. So müssen wir heute, in Zeiten einer Rückkehr zu den angeblich humaneren konventionellen Kriegen, immer häufiger beobachten, dass auch die sprachlich-symbolische, die politische Ebene von Auseinandersetzungen gewaltsam unterlaufen werden kann.

Es zeigt sich, dass die Politik als an sich zivile Intervention nicht automatisch zu einer Einhegung des Krieges führen muss, sondern zu einer weiteren Eskalation und damit zu einer Steigerung und Verlängerung von Grausamkeiten gegenüber der Zivilbevölkerung instrumentalisiert werden kann. Es ist dies eine Besonderheit, zu der nur das "politische Tier Mensch" (Zitat Aristoteles), nicht aber jedes andere, von Natur aus unpolitische Tier gezwungen werden kann. Allein der Mensch ist erpressbar.

Zivilbevölkerung als Opfer

Das komplexe Verhältnis von Macht und Gewalt betrifft im Falle eines Krieges nicht nur die unmittelbaren Kriegsparteien. Es führt in einer vernetzten Welt zu weltweiten Verwerfungen. Im Besonderen aber hat dieses Verhältnis massive Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung - und zwar nicht nur vor Ort. Gerade die Zivilbevölkerung ist in den Industrieländern mehr denn je institutionell und organisatorisch von ihrer politischen Führung abhängig. Je höher entwickelt, desto fragiler ist die zivile Ordnung. Daher sind auch die meisten Opfer des Krieges in der Zivilbevölkerung zu beklagen und nicht wie früher in den Reihen der Soldaten.

Das aber müsste jeder Kriegspartei in der Gestaltung ihrer Propaganda zu denken geben. So ist heute, allein schon wegen der massiven Betroffenheit von Zivilisten, jede Mobilisierung zu hinterfragen. Leider aber sind die Durchhalteparolen in der Ukraine, die zu Heroismus in wenig aussichtsreicher Lage verleiten, genau in diesem Sinne zu kritisieren: Zum einen ist der redegewandte Präsident Wolodymyr Selenskyj bestrebt, über seine mitreißenden Worte Hoffnung zu verbreiten. Zum anderen aber kann seine überschießende Rhetorik dazu führen, die militärische Situation inadäquat zu beurteilen - und das womöglich mit dem Resultat vieler vermeidbarer Opfer. Deutlich, ja überdeutlich wird das, wenn Selenskyj nicht nur die eigene Bevölkerung für einen heroischen Widerstand zu begeistern trachtet, sondern darüber hinaus sogar bestrebt ist, die gesamte westliche Welt dazu zu bewegen, das Risiko eines Atomkriegs auf sich zu nehmen . . .

Ein besonnener Pazifismus sieht anders aus. Ihm gilt es, die eigenen Emotionen - trotz hohem Engagement - zu zügeln und auf sachdienliche Bahnen der Friedensstiftung zu lenken. Passiver Widerstand und dessen kreatives Potenzial stehen hier im Vordergrund und nicht heroischer Aktionismus. Schließlich läuft ein militant reagierender Pazifismus selbst wieder Gefahr, einem paradoxen Bellizismus in einer Spirale der Gewalt zum Opfer zu fallen. Daraus folgt, dass es gerade hier erforderlich ist, sich in seinen Ansprüchen und Aktionen der konkreten Situation angemessen zu verhalten - und das ohne seine langfristigen Ziele aus den Augen zu verlieren.

Wer in Pazifisten bloß "nützliche Idioten" für Aggressoren sieht, sollte sich auch darüber im Klaren sein, dass Bellizisten die "schädlichen Idioten" für alle - für Aggressoren, Verteidiger und die weltweite Zivilbevölkerung - sind oder sein werden.