Zum Hauptinhalt springen

Neutralität und Moral

Von Wendelin Ettmayer

Gastkommentare

Was bedeutet es für ein Land, neutral zu sein, wenn es zum Kampf "Gut" gegen "Böse" kommt?


Im Oktober 1955 beschloss der Nationalrat des Bundesverfassungsgesetzes über die Neutralität Österreichs. Demnach sollte das Land bei künftigen Kriegen neutral bleiben und ausländische Stützpunkte auf dem Staatsgebiet nicht zulassen. Außerdem verzichtete Österreich darauf, sich an militärischen Bündnissen zu beteiligen. Damit sollte, mitten im Kalten Krieg, ein Beitrag zu Frieden und Sicherheit nicht nur für das eigene Land, sondern für die ganze Region geleistet werden. Das ist gelungen. Die Neutralität wurde ein Teil der österreichischen Identität.

Die Neutralität wurde im Geist von Realpolitik und Staatsräson festgelegt. Zum Wesenszug der Realpolitik gehört die Umkehrung der Werte: Verhaltensweisen, die im privaten Bereich aufs Schärfste verurteilt würden, gereichen, wenn sie der Macht des Staates dienen, zur höchsten Ehre.

Nun hat sich, insbesondere nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs, ein neues Denken entwickelt. Das ist gut so, und es ist daher verständlich, dass der Anspruch erhoben wird, dass es, wie jetzt im Ukraine-Krieg, keine Neutralität gegenüber einer Politik geben darf, die brutal auf die Erweiterung des eigenen Machtbereichs ausgerichtet ist. Dies insbesondere dann, wenn auf der anderen Seite Kräfte stehen, die bemüht sind, für das Gute in der Welt, für Recht und Ordnung zu kämpfen. Somit stellen sich mehrere Fragen.

Muss ein Neutraler eine moralisch begründete Politik unterstützen?

Die USA verstanden sich immer schon als "ein Land mit einer Mission". Frieden und Demokratie sollten, basierend auf der eigenen militärischen Stärke, in die Welt gebracht werden. In den vergangenen Jahren wurde diese Tendenz verstärkt, weil sowohl in der Innenpolitik als auch in der Außenpolitik der "liebe Gott" immer stärker in die eigenen politischen Ziele eingebunden wurde. Jim Wallis beschreibt das sehr gut in seinem Buch "God’s Politics - A New Vision for Faith and Politics in America".

Jeder Krieg wird damit ein moralischer Kampf, in dem letztlich alle Mittel erlaubt sind. "Moralisch" ist allerdings nur die Begründung, nicht die Durchführung der jeweiligen Politik. So hat schon George F. Kennan in "Foreign Affairs" geschrieben: "The conduct of the foreign relations of a great country is a practical, not a moral exercise." Beispiele dafür gibt es genug, vom Einsatz von Giftgas in Vietnam bis zu den unzähligen getöteten Zivilisten in Afghanistan und im Irak.

Für einen Neutralen stellt sich daher nicht die Frage, ob man eine Äquidistanz zwischen "Gut" und "Böse" einnehmen soll, sondern ob man sich auf die Seite "des Guten" schlagen muss, auch wenn dessen Politik in der Praxis genauso machtpolitisch durchgeführt wird wie die der anderen Seite.

Wie weit verlangt innerstaatliche Demokratie ein entsprechendes Verhalten in der Außenpolitik?

Wenn es darum geht, die Demokratie in der Welt zu fördern, stellt sich die Frage, was besser ist: demokratische Institutionen im eigenen Lande auszubauen oder über andere Länder unter dem Vorwand von "Democracy-building" herzufallen? Nun ist das Sendungsbewusstsein der USA in einem ganz entscheidenden Ausmaß darin begründet, die "Demokratie" in die Welt zu tragen: So sehr allerdings die Begeisterung der Amerikaner für "mehr Demokratie in der Welt" seit dem Ende des Kalten Krieges zugenommen hat, so sehr ist auch die Kritik an den politischen Institutionen im eigenen Land in den vergangenen Jahrzehnten sehr stark geworden. Es geht dabei nicht nur um Kritik am politischen System; dieses selbst wird immer mehr infrage gestellt.

Nun ist es eine politische Entscheidung der USA, auch unter diesen Gegebenheiten ihr eigenes politisches System weltweit durchsetzen zu wollen, wenn nötig auch in Form von bewaffneten "Allianzen für die Demokratie". Eine andere Frage ist es, ob Österreich seine Neutralität aufgeben soll, um sich daran zu beteiligen. Zweifellos war das politische Leben in Österreich in den vergangenen Jahren durch verschiedene Turbulenzen geprägt. Aber das politische System unseres Landes zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht viele Staaten gibt, in denen die formellen Mitbestimmungsmöglichkeiten so ausgeprägt sind wie bei uns: Wir haben nicht nur ein Parlament auf Bundesebene, sondern auch neun Landtage und hunderte Gemeinderäte. Über Betriebsräte und Personalvertretungen gibt es die Möglichkeit der Mitbestimmung in Betrieben und Dienststellen. Kammern sollen eine Mitsprache einzelner Berufsgruppen ermöglichen, und Volksanwälte gibt es auf verschiedensten Ebenen und in den unterschiedlichsten Bereichen.

Es stellt sich natürlich die Frage, ob und wie diese Institutionen durch ein entsprechendes aktives Engagement mit Leben erfüllt werden und tatsächlich zu einer höheren politischen Lebensqualität beitragen. Von seinen institutionellen Möglichkeiten her hat Österreich die Chance, als lebendige Demokratie eine Strahlkraft zu entwickeln, die auch nach außen wirkt. Eine Aufgabe der Neutralität ist dafür nicht notwendig.

Wer ist ein Trittbrettfahrer?

Österreich wird immer wieder vorgeworfen, als neutrales Land zu wenig für seine Sicherheit zu tun. Es sei ein Trittbrettfahrer, für dessen Verteidigung andere die Last tragen müssten. Nun ist es sehr schwer festzustellen, wie hoch die Militärausgaben eines Landes sein müssen, damit seine Sicherheit gewährleistet werden kann. Wie stark muss ein Heer sein, um eine Schlacht, einen Krieg gewinnen zu können?

In der "New York Times" vom 29. Juni konnte man unter der Überschrift "Europe has an American Problem" lesen, alle Europäer wären "freeriders", also Trittbrettfahrer, weil sie sich in Sicherheitsfragen auf die militärische Großzügigkeit der USA verließen. Tatsächlich haben die USA im vergangenen Jahr 801 Milliarden Dollar für ihre Streitkräfte ausgegeben, was etwa 40 Prozent der Militärausgaben der ganzen Welt entspricht. Im Rahmen einer "Grand Srategy" legen die USA immer wieder fest, welche Ziele sie international erreichen wollen, etwa wie weit auch Präventivkriege geführt und andere Mächte in die Schranken gewiesen werden sollen.

Aber ist jeder ein Trittbrettfahrer, der sich an einer "Grand Strategy" der USA nicht beteiligt? Europäische und amerikanische Interessen müssen nicht immer im Einklang stehen. Schon vor Jahren konnte man selbst in Medien, die den USA verbunden sind, lesen: "Die USA isolieren Russland von Europa." ("Die Welt", 3. November 2017) Liegt eine derartige Politik im Interesse Österreichs? Damit im Zusammenhang muss man feststellen, dass die US-Außenpolitik primär vom Pentagon, also von den Militärs, festgelegt wird, nicht von den Diplomaten.

Das bedeutet nicht, dass diese Politik nicht auch in Europa Anhänger gefunden hätte. Schon der frühere US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hat nach Beendigung des Kalten Krieges vom "alten" und vom "neuen Europa" gesprochen. Die früher kommunistischen Länder wurden zwar Mitglied des Europarates, so wie Russland, eine Aussöhnung kam aber nicht zustande. Auftritte führender US-Politiker, wie jene von John McCain oder Lindsey Graham unter dem Motto "Euer Kampf ist unser Kampf", haben die Stimmung weiter aufgeheizt. Dass Politik, die auf eine Erhöhung der Spannungen ausgerichtet ist, zu einer Aufrüstung führen muss, ist klar. Eine andere Frage ist, ob Österreich eine solche Politik mittragen soll.

Die österreichische Außenpolitik soll auf Frieden, Sicherheit und das Wohlergehen unseres Landes ausgerichtet sein, durchaus im Einklang mit den anderen Mitgliedern der Europäischen Union. Eine Unterstützung der weltweiten Ambitionen einer Großmacht muss nicht Teil dieser Politik sein. "Mehr Sicherheit" muss nicht unbedingt mit mehr Rüstung einhergehen, sondern kann durchaus auch auf mehr Diplomatie beruhen. Eine solche Politik hat das neutrale Österreich in den vergangenen Jahrzehnten ausgezeichnet, weshalb es keinen Grund gibt, von diesem bewährten Modell abzugehen.