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Eine Entgiftungskur für Elektrizität

Von Stefan Schleicher

Gastkommentare
Stefan Schleicher ist Professor am Wegener Center für Klima und globalen Wandel an der Karl-Franzens-Universität Graz.

Der Fall Wien Energie wird ein erster Test zur Überwindung bestehender toxischer Marktstrukturen.


Märkte können toxische Wirkungen entfalten. Europa bekommt dies seit mindestens einem halben Jahr bei Gas zu spüren. Innerhalb weniger Tage lernt Österreich diese Lektion bei Elektrizität am Fall von Wien Energie. Etliche Schuldzuweisungen stehen im Raum: Die explodierenden Preise für Gas sind bestimmend für den Preis von Elektrizität; in der Folge werden die Kosten für das Risikomanagement nicht mehr stemmbar; schließlich gibt es die Versuchung zu spekulativen Geschäften.

Es braucht keine besondere energiewirtschaftliche Kompetenz, um dazu einige Fragen zu stellen. Warum soll in einem Land, das seine Elektrizität zu gut drei Viertel aus billiger inländischer und erneuerbarer Energie, von Wasser bis zu Wind, bereitstellen kann, der Preis für Gas eine dominante Wirkung für den Preis für Elektrizität haben? Wie könnte die Nachfrage nach Elektrizität besser dem vorhandenen Angebot angepasst werden? Warum soll es möglich sein, mit Elektrizität spekulative Geschäfte zu tätigen?

Noch vor zwei Monaten war aus Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft das warnende Mantra vor Markteingriffen zu hören. Inzwischen öffnet die EU die Diskussion um eine Reform der Elektrizitätsmärkte. Gleichsam als Tabubruch werden Preislimits für Gas, eine davon entkoppelte Preisbildung für Elektrizität sowie eine Gewinnabschöpfung bei Unternehmen der Energiewirtschaft zur Diskussion gestellt. Ein weiterer markanter Meilenstein ist der Wunsch nach einem finanziellen Schutzschirm für die mit Elektrizität befassten Unternehmen.

Solche Vorschläge kommen nicht unerwartet, da sie als Rettungsanker für die Absicherung der bestehenden Strukturen gelten. Damit wird aber nicht deren inhärent toxisches Potenzial eliminiert. Dessen Beseitigung braucht so etwas wie eine umfassende Entgiftungskur. Anregungen dazu finden sich in der Schweiz, die einen ähnlich hohen Anteil von Elektrizität aus nicht-fossilen Quellen wie Österreich hat. Für die vergangenen zehn Jahre weist die Schweiz bei den Haushalten weitgehend stabile Preise aus mit aktuellen Preisanhebungen von weniger als fünf Prozent. Im Gegensatz dazu verdoppeln sich diese Preise in Österreich.

Ein an der Schweiz orientiertes Detox-Paket für Elektrizität würde mindestens drei Komponenten umfassen. Erstens, eine zweistufige Preisbildung für Elektrizität, die billige Inlandserzeugung aus Erneuerbaren mit dem Restbedarf an Fossilen mit europäischen Marktpreisen poolt. Zweitens, eine Verschränkung von Elektrizität mit allen anderen Energieträgern, vor allem bei der Bereitstellung von Wärme. Drittens, eine aktive Beeinflussung der Nachfrage durch eine umfassende Tarifreform, die auch Haushalten Anreize setzt, ihren Verbrauch der aktuellen Verfügbarkeit von Elektrizität anzupassen.

Jeder dieser Schritte erfordert eine hohe Bereitschaft zu Innovation und damit verbundenen neuen Geschäftsmodellen sowie unterstützenden Regulierungen. Der Fall Wien Energie wird ein erster Test, ob schon ausreichend Energie zur Überwindung bestehender toxischer Strukturen vorhanden ist.

So eine Wirtschaft: Die Wirtschaftskolumne der "Wiener Zeitung". Vier Expertinnen und Experten schreiben jeden Freitag über das Abenteuer Wirtschaft.