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Wirecard und das Unvermögen staatlicher Strukturen

Von Marlon Possard

Gastkommentare
Marlon Possard ist Lehrgangsleiter, Dozent und wissenschaftlicher Assistent mit den Schwerpunkten Financial Accounting und Steuer- und Unternehmensrecht. Als Jurist und Rechtsphilosoph beschäftigte er sich in seiner Dissertation mit Fragen der Wirtschaftskriminalität und der Ethik von Bilanzfälschungen. Diesbezüglich analysierte er den Skandal rund um die Commerzialbank Mattersburg AG (Österreich). Seit 2022 ist er zudem Präsident des Akademischen Börsenvereines Innsbruck (ABVI).
© privat

Auch die Prüf- und Aufsichtsorgane sind in der Verantwortung.


Der Skandal rund um Wirecard rückt durch den Prozess vor einem Strafgericht in München wieder in den Mittelpunkt. Am 24. Juni 2020 meldete das Unternehmen Insolvenz an. Es war der Anfang vom Ende von Wirecard, die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft werden auf 474 Seiten skizziert. Nicht nur fehlt zwischen den Angeklagten der auf der Flucht befindliche Beschuldigte M., sondern man vermisst auch prinzipiell Vertreter aus unterschiedlichen Bereichen des staatlichen Systems.

Warum? Der Sachverhalt von Wirecard weist Parallelen zu anderen Fällen, insbesondere der Commerzialbank Mattersburg, auf. Bei Wirecard ist nicht nur das Agieren der Beschuldigten von Relevanz, sondern auch die Stellung der Aufsichtsorgane. Über Jahre hinweg wurden Auffälligkeiten durch die Staatsanwaltschaft unzureichend beziehungsweise gar nicht weiterverfolgt, obwohl den Behörden bereits im Jahr 2011 konkrete Hinweise für Kursauffälligkeiten vorlagen. Erhärtet wurde dieser Verdacht im Jahr 2019, als der zuständigen Staatsanwaltschaft nun auch Informationen bezüglich Geldwäscherei zugetragen wurden. Zudem war die Rechnungslegung von Wirecard äußerst fragwürdig - so fragwürdig, dass das Unternehmen selbst für das Jahr 2019 überhaupt keine ordnungsgemäße Bilanz vorlegen konnte. Das staatliche Vorgehen dahingehend lässt viele Fragen offen, vorwiegend aber nagt dieses an der Vertrauensbasis der Bevölkerung gegenüber einer unabhängigen Justiz und einem - in justizieller Hinsicht - funktionierenden Staat.

Neben dem Vorgehen der Staatsanwaltschaft in der Causa Wirecard muss auch die Wirtschaftsprüfung kritisch beurteilt werden. Immer häufiger zeigt sich, dass Aufsichtsorgane von einem selbstkonstruierten Grundsatz namens "Omnia bene!" ausgehen: Sie vertrauen primär auf die Richtigkeit einer Bilanz, so wie das auch Banken immer öfter, ohne detailgetreue Prüfung, tun. Ganz nach dem Motto: Hat die Vorjahresbilanz gepasst, kann sie auch für dieses Jahr bestätigt werden. Verschachtelte Buchungen werden da in Kauf genommen.

Somit sind die zuständigen Wirtschaftsprüferinnen und -prüfer, so wie auch bei der Commerzialbank Mattersburg, ebenfalls in der Verantwortung. Deren Prüfungstätigkeiten gehören ebenso wie jene der Aufsichtsorgane reformiert und neu geordnet. Vorschläge hierzu: Die Beratung sollte von der Wirtschaftsprüfung ausgegliedert werden, die Tätigkeit sollte einer zeitlichen Begrenzung unterliegen, und eine Art "Random System" sollte etabliert werden. Damit könnten dolose Vorgänge zumindest minimiert werden.

Die Münchener Anklagebank hätte voller sein können, als sie es jetzt schon ist. Professionelles, seriöses und qualitätsvolles Prüfen darf nicht zu einem bloß mechanisch ausgeführten und routinemäßigen Arbeitsablauf verkommen. In Summe wird damit nämlich einem ganzen Berufsstand geschadet - vorrangig jenen, deren Tätigkeit auf Verlässlichkeit und Genauigkeit basiert. Egal ob in Deutschland, Österreich oder sonst wo: Solche Mängel gehören aufgelöst. Hier ist der Gesetzgeber gefragt, obgleich Bilanzmanipulationen nie völlig beseitigt werden können. Denn: Wo ein Wille, da ist auch ein Weg.