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Lese-, Schreib- und Rechenschwäche - verblöden wir?

Von Ernst Smole

Gastkommentare
Ernst Smole war Berater der Unterrichtsminister Fred Sinowatz, Helmut Zilk und Herbert Moritz. Er ist Musikkindergärtner und Koordinator des "Bewegungs- und Unterrichtsplans für Österreich 2030".
© privat

Uns sollte der "Anti-Flynn-Effekt" - der Rückgang der durchschnittlichen Intelligenz - Sorgen machen.


"Intelligenzschwund?" Diese Frage hat das mediale Publikum noch nicht erreicht, wohl aber die Wissenschaft. Jakob Pietschnig, Leiter des Arbeitsbereiches für Differentielle Psychologie und Psychologische Diagnostik an der Universität Wien, und Martin Voracek, Professor für Psychologische Forschungsmethoden an der Fakultät für Psychologie der Uni Wien, haben 219 Studien aus 31 Ländern mit rund vier Millionen Teilnehmern ausgewertet. Die Fragestellung: Hat sich der durchschnittliche IQ der Menschheit seit Beginn der Erhebungen im Jahr 1909 verändert?

Die Antwort: Ja - er ist bis zur Jahrtausendwende gestiegen, seither sinkt er. Der "Flynn-Effekt" - benannt nach dem neuseeländischen Kognitionsforscher James R. Flynn (1934 bis 2020) - wird offenbar zum "Anti-Flynn-Effekt". Die Gründe? Über diese rätselt man. Die zeitliche Abfolge verschiedener Phänomene kann Hinweise geben.

Auch ein Blick auf Bedeutung und Herkunft des Begriffs Intelligenz ist hilfreich. Intelligenz im Sinne von Erkenntnisfähigkeit leitet sich ab vom "inter lineas legere", also vom "Lesen zwischen den Zeilen" - Abstraktionsfähigkeit also. Lesen? Ja - Lesen! Die rasante Entwicklung Europas seit dem 18. Jahrhundert - Handwerk, Industrie, Technik, Ernährung(!), Naturwissenschaften, Medizin, Demokratie, Künste - verlief synchron mit der Alphabetisierung immer weiterer Bevölkerungskreise, die durchschnittliche Intelligenz stieg immer weiter an - siehe "Flynn-Effekt".

In den 1980er Jahren setzte dann die Wissenschaft erste Warnhinweise: "Vorsicht! Es geht mit dem Lesen, Schreiben und Rechnen bergab." Wie das? Ab den 1970er Jahren setzte die Überlastung der Schule mit Aufgaben ein, die zuvor in der Familie geleistet worden waren; Lesen, Schreiben und Rechnen wurden zur Nebensache. Das Werden und Vergehen von Hochkulturen war stets mit der Alphabetisierung beziehungsweise deren Verlust verbunden. Auch die als schriftlos geltenden Inka hatten ein abstraktes Kommunikationssystem: die berühmten Knotenschnüre, die man "lesen" musste. Den Angehörigen der einzigen heimischen Ethnie, die keine Schrifttradition besitzt - Roma und Sinti -, gelingt der Sprung in die Mitte der Gesellschaft stets dann, wenn sie sich der Schriftlichkeit öffnen.

Die Pisa-Gesamtkurve, die seit 20 Jahren tendenziell nach unten zeigt; zu viele lese- und rechenschwache Pflichtschulabsolventen, ebensolche Maturanten und fallweise auch Akademiker in leseaffinen Berufsfeldern wie der Rechtswissenschaft; ein europäischer Rekordwert in der Negativbewertung von Wissenschaft - all das sind verstörende Anzeichen von Zukunftsvergessenheit als eine Folge des Schwindens von Abstraktionskönnen, Stichwort Klimawandel. Sind wir auf dem Weg hin zur Verblödung? Zahlreiche Symptome und nicht zuletzt der "Anti-Flynn-Effekt" scheinen darauf hinzuweisen. Flynn selbst nannte als Gründe "das Verschwinden anspruchsvoller Bücher" und die Zunahme des digitalen Spielens - und all das, was in Folge dieser Phänomene zu kurz kommt. Wer ruft "Stop!", wer drückt alle verfügbaren "Reset"- und "Neustart"-Tasten?