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Zeit für eine neue EU-Wirtschaftspolitik

Von Kurt Bayer

Gastkommentare

Eine primäre Ausrichtung auf die EU und die Eurozone insgesamt statt auf die einzelnen Mitgliedstaaten wäre nötig.


Die Krisen der vergangenen 15 Jahre (von der Finanz- über die Corona- bis zur Energie- und Inflationskrise) sowie strukturelle Klima/Umwelt- und Verteilungskrisen zeigen: Die Wirtschaftspolitik der EU ist an ihren selbst gesteckten Zielen, die Lebenssituation ihrer Bevölkerung zu verbessern, gescheitert. Zweifellos hat die EU (und mit ihr die Eurozone) auf viele Herausforderungen reagiert, aber immer spät und fast immer mit nur geringem Erfolg.

Das Resultat ist ein vollkommen unübersichtliches Sammelsurium an oft teuren, einander widersprechenden und einander überlappenden Maßnahmen sowie finanziellen Förderungen, deren Inanspruchnahme schwierig und langwierig ist - und deren Effektivität oft zweifelhaft ist. Stringente Evaluierungen wirtschaftspolitischer Maßnahmen bleiben aus. So ist es der EU unmöglich, eine grundlegende Neuorientierung zu konzipieren, die vielleicht auch die Grundlagen ihrer Politik hinterfragen würde.

Die Bedeutung der Angemessenheit der EU-Wirtschaftspolitik geht über ihre Wirksamkeit für die 27 EU-Länder hinaus, da sie die Position der EU insgesamt in der neuen geostrategischen Positionierung mitbestimmt. Die EU als wirtschaftliche Großmacht und politische Mittelmacht kann sich im globalen Geschehen nur behaupten, wenn sie ihre Stärken ausspielt und ihre Schwäche korrigiert. Ihre Stärken liegen primär im Setzen und Festigen von Standards, die auf "EU-Werten" beruhen und angesichts ihrer wirtschaftlichen Stärke auch weltweit anerkannt sind und optimalerweise durchgesetzt werden können.

Beispiele dafür sind die Datenschutz-Grundverordnung oder das kürzlich begonnene Mainstreamen von Nachhaltigkeit in die Wirtschaftspolitik, sichtbar etwa am Beispiel der Taxonomie der Europäischen Zentralbank (EZB), dem "European Green Deal" und dem angedachten "Green Deal Industrial Plan". Durch den Ausbau dieser Stärke bei der Standardsetzung und ihrer geostrategischen Rolle könnte die EU einen eigenständigen Weg festigen und sich damit der Notwendigkeit entziehen, Partei für eine der beiden im Hegemonialstreit liegenden Mächte, USA und China, zu ergreifen beziehungsweise sich einem der beiden Lager voll anzuschließen.

Ein "Hü-Hott" bei Geld- und Fiskalpolitik

Neben einer Reihe von notwendigen inhaltlichen Schritten sind besonders zwei Neuorientierungen wichtig. Die erste ist die primäre Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf die EU und die Eurozone insgesamt statt auf die einzelnen Mitgliedstaaten. Dies würde der derzeitigen Asymmetrie, dass die Geldpolitik der Eurozone gemeinsam von der EZB gemacht wird, das wichtige Pendant Fiskalpolitik jedoch von den einzelnen Mitgliedsländern, ein Ende setzen. Erst dies würde eine gut koordinierte Makropolitik durch Abstimmung von Geld- und Fiskalpolitik möglich machen.

Derzeit läuft dies schief, da die Geldpolitik mit ihren Zinserhöhungen restriktiv wirkt (um die Inflation zu bekämpfen), gleichzeitig aber viele Länder durch oft überschießende Hilfen für Firmen und Haushalte expansive Budgets abliefern. Es besteht also ein "Hü-Hott". Die durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt (seit Beginn der Einführung der gemeinsamen Währung 2000) intendierte Koordinierung der Budgetpolitiken der Mitgliedstaaten hat ein Eigenleben angenommen und ist de facto zum primären Politikinstrument der Eurozone geworden.

Da seine restriktive Ausrichtung hin zu Nulldefiziten, also ausgeglichenen nationalen Budgets, die Wirtschaftspolitik bestimmt, hat sich in der EU sowohl das Wirtschaftswachstum als auch die Beschäftigung, vor allem aber die Einkommenssituation der Haushalte massiv verschlechtert. Dass im zweitreichsten Wirtschaftsraum der Welt die Armutsgefährdungsquoten bei 20 Prozent liegen und die Armut selbst massiv zugenommen hat, trägt zum weitreichenden Vertrauensverlust breiter Bevölkerungsschichten in den politischen Prozess und zur Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, sowie zum Aufstieg rechtspopulistischer Parteien bei. Die Ablösung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes durch einen anderen, indikativen, Koordinationsmechanismus ist ein Muss.

Binnenmarkt statt Außenorientierung

Ein zweiter wichtiger Punkt ist die Konzentration der Wirtschaftspolitik auf den riesigen EU-Binnenmarkt. Dieser ist mit 15 Billionen Euro der zweitgrößte Wirtschaftsraum und der größte Handelsraum der Welt und umfasst 448 Millionen Menschen. Statt mit der Wirtschaftspolitik primär auf die externe Wettbewerbsfähigkeit zu zielen, was erfordert, die heimischen Kosten - besonders die Arbeitskosten - niedrig zu halten, sollte die Region des Binnenmarktes das Zielobjekt der Wirtschaftspolitik sein. Dabei wirken die Einkommen der Beschäftigten (Löhne) primär als positiver Nachfrageeffekt - und damit wachstumssteigernd - und nicht primär als zu minimierender Kostenfaktor.

Mit einer Konzentration auf das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung sollte auch ein breiteres Zielbündel als das derzeit de facto verfolgte für die Wirtschaftspolitik leitend sein. Ein Wohlergehen der Bevölkerung, das neben den materiellen Einkommen auch die Versorgung mit öffentlichen Gütern, die Lebensqualität, die Arbeitsbedingungen, die Einkommens- und Vermögensverteilung, die Work-Life-Balance, Kultur- und Freizeiterleben und natürlich die Umweltqualität mit einschließt, sollte zum Leitstern der Wirtschaftspolitik werden. Deren Aufrechterhaltung und Verbesserung sollte die enge ökonomistische Ausrichtung auf das Wirtschaftswachstum als Leistungsindikator einer Volkswirtschaft ablösen.

Viele dieser über die enge Ökonomie hinausgehenden Ziele sind bereits im Artikel 3 des EU-Vertrags von Lissabon festgehalten. Leider hat sich die konkrete Wirtschaftspolitik durch die Überbetonung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes weit davon entfernt. Spätestens die späte und unvollkommene Krisenbekämpfung hat die Schwächen der EU-Wirtschaftspolitik gnadenlos offengelegt. Es ist höchste Zeit für eine grundlegende Neuorientierung.

Eine Langfassung dieses Textes ist als Policy Brief der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik erschienen: www.oegfe.at/policy-briefs