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Das altbekannte Nord-Süd-Gefälle ist wieder da

Von Tomasz Wieladek

Gastkommentare
Tomasz Wieladek ist Europäischer Chefökonom beim US-Finanzdienstleistungsunternehmen T. Rowe Price.
© T. Rowe Price

Die nächste Sitzung des EZB-Rats steht bevor. Dieser dürfte den ganzen Sommer über eine restriktive Haltung einnehmen.


Sofern wir am heutigen 2. Mai keine extrem positiven Verbraucherpreisindex-Daten und eine erfreuliche Erhebung zur Kreditvergabe der Banken erhalten, ist eine Anhebung um 25 Basispunkte mit dem Hinweis auf weitere Zinserhöhungen das wahrscheinlichste Resultat der Sitzung des EZB-Rats am kommenden Donnerstag.

Die Europäische Zentralbank wird im Vergleich zu anderen weiterhin eine restriktive Haltung einnehmen. Der Dienstleistungssektor im Euroraum setzt sein ohnehin schon robustes Wachstum fort. Zwar waren die Daten des Purchasing Managers Index (PMI) für das verarbeitende Gewerbe schwächer als von vielen erwartet, aber es gibt auch noch andere Erhebungen, die man sich ansehen sollte.

So zeigen beispielsweise Umfragen eine noch nie dagewesene Entspannung in Bezug auf die Lieferketten. Wir wissen, dass der Auftragsbestand des verarbeitenden Gewerbes sehr hoch ist, sodass eine Lockerung der Lieferketten ein problemloses Weiterlaufen der Industrieproduktion bedeuten würde, selbst wenn die Nachfrage nach neuen Aufträgen schrumpfen sollte. Die Realwirtschaft in der Eurozone wächst also robust und schneller als bisher erwartet.

Diese Entwicklungen haben wichtige Auswirkungen auf die Inflation. Einerseits wird es in den kommenden Monaten zu einer sehr schnellen Disinflation bei den Industrieerzeugnissen kommen, während der Personalmangel im Dienstleistungssektor auf der anderen Seite die Inflation hoch hält.

In Anbetracht dieser Entwicklung der Inflation und der realen Wirtschaftstätigkeit dürfte der Rat der Europäischen Zentralbank den ganzen Sommer über eine restriktive Haltung einnehmen. Der Einlagensatz könnte dabei 3,75 Prozent oder noch mehr erreichen.

Auch das altbekannte Nord-Süd-Gefälle im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ist wieder da. Die Inflation ist höher, und die Zweitrundeneffekte über die Löhne fallen in jenen Ländern, welche der Inflation ein größeres Gewicht beimessen, weitaus deutlicher aus. Beispiele hierfür sind Deutschland, Österreich, die Niederlande und die baltischen Staaten. Auf der anderen Seite zeigt sich der Dienstleistungssektor in jenen Ländern, die in der Geldpolitik mehr Gewicht auf die Produktion legen, wie zum Beispiel Italien oder Spanien, deutlich stärker. Die Daten belegen also weiterhin die jeweiligen Präferenzen der einzelnen Staaten, sodass der Konsens über einen geldpolitischen Kurs bis weit in die zweite Jahreshälfte hinein Bestand hat.

Auch wenn die "Falken" unter den Mitgliedern des EZB-Rates, die für höhere Zinssätze eintreten, eine Anhebung um 50 Basispunkte (0,5 Prozentpunkte) fordern, besteht meiner Meinung nach eine gute Chance, dass sie ihre Forderungen abschwächen werden, wenn eine quantitative Straffung angedeutet wird. So könnten sie beispielsweise eine Reihe von Zinserhöhungen um 25 Basispunkte ankündigen oder darauf hinweisen, dass die Reinvestition des Anleihekaufprogramms der Europäischen Zentralbank nach Juni eingestellt wird.