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Europa quo vadis?

Von Rainer Stepan

Gastkommentare

Österreich ist die kleine Welt, in der die große - in diesem Fall Europa - ihre Probe hält.


Wladimir Putins Krieg in der Ukraine seit 24. Februar 2022, an Grausamkeit und einer Unzahl von Kriegsverbrechen im 21. Jahrhundert kaum zu überbieten; Europa hat all die Kriege und kriegerischen Einsätze Putins in Zentralasien, im Südkaukasus, in Belarus, in Syrien in den Monaten und Jahren davor übersehen, auch in der Ukraine - jetzt sind wir im Westen entsetzt. Aber wo waren wir im Jahr 2014, als Putins "grüne Männchen" die Krim besetzten und annektierten? Der russische Präsident war damals noch ein gern gesehener Gast in Europa, besonders in Österreich.

Dieser Krieg in Europa müsste nicht sein, wären die deutlichen und fundierten Warnungen Otto von Habsburgs in den Jahren 2003 und 2005 ernst genommen worden - ein großer Österreicher, der letzte Kronprinz der Habsburger-Monarchie und ab 1979 ein aktiver EU-Parlamentarier mit außenpolitisch extraordinärer Weltgewandtheit und unglaublich vielfältigem Detailwissen. Er war aber sein Leben lang ein Feindbild der österreichischen Sozialisten, und der deutschnationalen FPÖ; erst mit Bruno Kreiskys Shakehands 1972 in SPÖ-Kreisen toleriert, aber nicht wirklich anerkannt; erst zu seinem Begräbnis am 16. Juli 2011 kamen alle, nach dem Motto: "Ein toter Habsburger - ein guter Habsburger."

Auch hier unterscheidet sich Österreich gravierend von vielen anderen Republiken Europas, die zu ihren ehemaligen Herrscherfamilien ein positives Verhältnis haben und diese auch oft für besonders repräsentative Veranstaltungen miteinbeziehen - in Österreich undenkbar; auch, weil Geschichte hierzulande politisch instrumentalisiert wird. Das zeigt deutlich die Nicht-Debatte über die Nato als Alternative zur immerwährenden Neutralität, die sich angeblich bewährt hat. (Wann? Gott sei Dank bisher nicht - aber im Fall des Falles wäre die Neutralität sofort obsolet!)

Ein kulturhistorischer Barbarenakt

Dieses Österreich ist, und deshalb auch die Eingangsbemerkungen, vor allem durch seine türkise Regierungsriege außen- wie innenpolitisch nur noch peinlichst irrlichternd unterwegs. Die "Wiener Zeitung" - der ältesten Tageszeitung der Welt (seit 1703!), die bis heute eines der wenigen wirklichen Qualitätsmedien Österreichs und ein Kulturgut internationalen Formates darstellt - wird einfach vernichtet. Alle Ausreden, dass es ja weiterhin ein Online-Medium geben werde, sind die Luft nicht wert, in die sie gesprochen werden; und es ist ein typisches Zeichen für die mangelnde politische Qualität der vor allem türkisen Regierenden - ein kulturhistorischer Barbarenakt, eine Schande für dieses Land!

Aber das passt alles in den Trend, dass in Westeuropa Putins fünfte Kolonne, die rechtsextremen Populisten, von Wahl zu Wahl stärker und extremer werden. Die Regierungsbildungen in Niederösterreich und nun wahrscheinlich auch nach demselben Ritus in Salzburg sind Vorboten einer künftigen Politik - sicher auch auf Bundesebene, wenn die Nationalratswahl so ausgeht wie vorhergesagt, was einem mitdenkenden Bürger den kalten Schweiß auf die Stirn treibt.

Allein die Reden von FPÖ-Bundesparteichef Herbert Kickl und von Manfred Haimbuchners, dem Stellvertretenden Landeshauptmann Oberösterreichs, am 1. Mai haben erschreckend die Programmatik der FPÖ gezeigt. Wolfgang Schüssel hat mit seiner schwarz-blauen Regierung noch nüchtern - so ist anzunehmen - kalkuliert, um seine Vorhaben durchzubringen. Er hat den blauen Regierungsmitgliedern jedoch freien Lauf gelassen, was in vielen gerichtlichen Prozessen - teilweise bis heute - Nachwirkungen hat. Die seinerzeitige Regierung ist an inneren Problemen der FPÖ kläglich gescheitert. Aber bei Schüssel war noch ein weltanschauliches Fundament da, das sich von dem der Blauen sehr wohl unterschieden hat.

Das zweifelsohne politische Talent Sebastian Kurz hat in der Manier von Peter Pilz - siehe etwa dessen politisch "tödliche" Intrigen gegen Freda Meissner-Blau - in brutaler Weise, aber aus seiner Sicht erfolgreich, Reinhold Mitterlehner als ÖVP-Obmann gekillt und damit die rot-schwarze Regierung unter Kanzler Christian Kern (SPÖ) à la Longue gesprengt. Wie das erfolgte, deuten die Chat-Protokolle des eigentlich mächtigsten Mannes in der zweiten Reihe der Kurz-Clique, Thomas Schmid, an.

Die Programmatik der FPÖ übernommen

Da Kurz kein politisch-weltanschauliches Fundament hatte (entgegen allen seinen Beteuerungen) und die rechten Populisten bewunderte, übernahm er die Programmatik der FPÖ, brachte diese aber charmanter unter die Wähler und konnte damit überzeugen. Diese politische Talent ist zumindest absehbar Geschichte. Mit dem Ibiza-Video war auch die türkis-blaue Regierung passé, noch verstärkt durch die Abberufung von Innenminister Kickl durch den Bundespräsidenten auf Verlangen von Kanzler Kurz. Dieser musste dann selbst gehen, Finanzminister Hartwig Löger kam für einige Tage ins Kanzleramt. Dann kam die Beruhigung mit der sehr geschickten Amtsführung von Kanzlerin Brigitte Bierlein (Juni 2019 bis Jänner 2020), der vormaligen Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes.

Während der Regierungsverhandlungen der Türkisen mit den Grünen nach der Nationalratswahl 2019 haben viele türkise Verhandlungsführer der türkis-blauen Regierung nachgeweint: wie harmonisch die Verhandlungen mit den Blauen gewesen seien - und jetzt? Dennoch brachte Türkis-Grün ein Regierungsprogramm (2020 bis 2024) zustande, in dem "das Beste beider Welten" angeblich Programm wurde. Nach seinem Intermezzo als Kurzzeit-Kanzler im Gefolge von Kurz’ "freiwilligem Rücktritt" ist auch Außenminister Alexander Schallenberg wieder in der politischen Versenkung verschwunden, da auch kein außenpolitisches Konzept vorhanden war und ist.

Der aktuelle Kanzler Karl Nehammer (seit 6. Dezember 2021), ehemaliger Innenminister, lieferte mehrere außenpolitische Peinlichkeiten, vom Besuch Putins über die Grenzpolitik bis zur Verhinderung des Schengen-Beitritts von Bulgarien und Rumänien. Jetzt wurde - sehr spät - Afrika als politisches Reiseland entdeckt. Auch Kurz inszenierte mit afrikanischen Staatsmännern einen Auftritt in Wien, und das war’s. Jetzt sind Nehammer, sein weitgehend unbekannter Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig sowie Staatssekretäre, über deren Existenz man überrascht ist, in der Weltgeschichte unterwegs ("Spesen-Europäer" nannte Julius Raab diese Leute einst) - nun, vielleicht bringt das ein bisschen Abwechslung in den tristen innenpolitischen Alltag. Der Nutzen ist jedenfalls überschaubar.

Türkis-Blau wird in den Bundesländern wieder geübt

Inzwischen lässt man einige Bundesländer wieder Türkis-Blau üben, mit Kickl im Hintergrund, der verbal eine Vorahnung auf die sehr wahrscheinliche Zukunft gibt, mit noch menschenfeindlicherer Migrationspolitik als unter Gerhard Karner und seinem Vorgänger Nehammer, mit Verschwörungstheorien, mit Freundschaft zum Kriegsverbrecher Putin. Es ist zu erwarten, dass er fast ausschließlich den eingekauften Boulevard dazu nutzen wird, um medienmäßig dominieren zu können; dann kommt womöglich - siehe Ungarn und Polen - die unabhängige Justiz dran. Recep Tayyip Erdogan, die Anführer der Schwedenpartei, die AfD, Giorgia Meloni, Marine Le Pen - alle diese lassen grüßen.

Sieht so die Zukunft Europas aus, mit ausschließlichen Sympathien für Putin, gegen die aktuelle US-Regierung unter dem Demokraten Joe Biden? Eine Wiederkehr Donald Trumps wäre für diese Leute in Europa wünschenswert. Und diese Entwicklung vorbereitet haben die - soweit noch vorhanden - ehemals bürgerlichen Parteien auf ihrem Todestrip, gemeinsam mit den Sozialdemokraten - so es Letztere überhaupt noch ernsthaft gibt.