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Der Niedergang des Westens verzögert sich

Von Iván T. Berend

Gastkommentare
Iván T. Berend ist ungarischer Historiker und gilt als einer der renommiertesten Spezialisten für die Wirtschaftsgeschichte Europas. Er war Präsident der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und ist Professor an der University of California (UCLA) sowie Korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
© privat

Entgegen den Voraussagen der russischen und ungarischen Regierung haben die westeuropäischen Länder ihren Vorsprung weiter ausgebaut.


Seit hundert Jahren steht der Niedergang des Westens auf der Tagesordnung. In den Jahren 1918 und 1922 veröffentlichte Oswald Spengler die beiden Teile seines Buches "Der Untergang des Abendlandes". Darin stellte er fest, dass Kulturen und Zivilisationen eine begrenzte und vorhersehbare Lebensdauer hätten. Er prophezeite, dass die westliche Zivilisation um das Jahr 2000 den Zustand unmittelbar vor dem Tod erreichen werde, um dann endgültig zu kollabieren.

In der Tat wurden in den vergangenen Jahren immer wieder neue Texte publiziert, die auf Spenglers Thesen zurückgriffen. So stellte etwa der Diplomat Kishore Mahbubani aus Singapur in seinem Buch die Frage: "Hat der Westen verloren?" Er fügte hinzu: "Bedeutet das, dass Europa und Nordamerika ihre Dominanz eingebüßt haben, ist die Antwort ja. Der Rest der Welt holt nämlich den Westen ein, indem er sich westliches Know-how aneignet. In diesem Sinne wäre der Westen ein Opfer des Erfolgs seiner eigenen Ideen geworden. Die westlichen Demokratien sind nicht mehr in der Lage, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu leisten. Seit dreißig Jahren befänden sich Durchschnittseinkommen und Lebensstandard in einem beispiellosen Rückgang, und der Westen ist nicht in der Lage, diesen Prozess umzukehren."

In den zur Autokratie neigenden Ländern Mittel- und Osteuropas wurden die Ablehnung des Westens und der Verfall des Abendlandes gleichermaßen zu zentralen politischen Themen. Wladimir Putin und Viktor Orbán sprechen fast täglich darüber. Putin, der ehemalige KGB-Agent, äußert sich besorgt darüber, dass Europa sich von seinen christlichen Werten entfernt. Er sieht die Akzeptanz von Homosexualität als ein "Ersetzen des göttlichen Glaubens durch einen satanischen Glauben".

Wie ein guter Schüler wiederholt Orbán diese Behauptungen: "Als vor hundert Jahren viele vom Niedergang des Abendlandes sprachen, meinten sie den demografischen und geistigen Niedergang, während es heute um den Verfall von Macht und Wohlstand geht." Der ungarische Premier sieht die bisher als unerschütterlich geglaubten Stützpfeiler der westlichen Zivilisation bröckeln. Bis 2030 werde sein Land Österreich überholen und in die Top 5 der europäischen Staaten aufsteigen, ist er überzeugt.

Na ja, an Phrasendrescherei scheint es nicht zu mangeln. Die Kritik hat aber auch eine realistische Grundlage. Karl Marx hat die inneren Schwächen des kapitalistischen Wohlstandes gründlich untersucht. Der sogenannte Wohlstandskapitalismus hat in den Zeiten des Kalten Krieges die nicht unerheblichen Schwächen dieses Systems tatsächlich korrigieren können.

Nachdem ein Wettbewerb zwischen den Systemen nicht mehr stattfand, wurde dieser jedoch gründlich hinterfragt. Betrachten wir die Situation anhand von Zahlen: Wer ist nun im Niedergang und wer auf dem Vormarsch? Am deutlichsten zeigt sich das beim Pro-Kopf-Einkommen, da dieses aufgrund der Wirtschaftsleistung, der technischen Innovation und der Wettbewerbsfähigkeit des jeweiligen Landes schneller oder eben langsamer wächst oder gar stagniert. Da ist am deutlichsten zu sehen, welchen Lebensstandard ein Land seiner Bevölkerung bieten kann. Vergleichsstudien haben zudem belegt, dass die Höhe des Einkommens offenkundig mit dem Bildungsniveau zusammenhängt.

Reicher Westen, armer Osten

Die drei größten Mächte im "aufsteigenden Osten", China, Indien und Russland, erwirtschafteten im Jahr 2022 zusammen ein Pro-Kopf-Einkommen von rund 10.500 Dollar. Der "untergehende Westen", also Westeuropa und die USA zusammen, kam auf 70.400 Dollar - das heißt, das Pro-Kopf-Einkommen des Ostens beträgt heute nur noch 15 Prozent des Westens.

Was Russland betrifft, so zeigt der historische Trend, dass das Land hinterherhinkt, statt aufzuholen. 1870 und 1913 erreichte das zaristische Russland nicht einmal die Hälfte des westeuropäischen Niveaus (48 beziehungsweise 40 Prozent). Danach scheint das Land infolge der erzwungenen Industrialisierung Josef Stalins unter enormen Opfern richtig angestiegen zu sein (1950 von 40 auf 55 Prozent des westeuropäischen Niveaus). Aber am Ende der Sowjetzeit, im Jahr 1990, landete Russland schließlich auf dem 40-Prozent-Niveau von 1913. Und wo ist es heute, nach 22 Jahren Putin-Herrschaft? Nun, heute ist das wirtschaftliche Niveau Russlands im Vergleich zum Westen auf die Hälfte des Niveaus von 1990 gesunken und liegt nur noch bei etwas mehr als einem Fünftel (21 Prozent) im Vergleich zu Westeuropa.

Und Ungarn? Nun, nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich (1867) begann das Land erfolgreich dem Westen zu folgen. 1870 erreichte Ungarn 60 Prozent des westeuropäischen und 68 Prozent des österreichischen Einkommensniveaus (bezogen auf die heutige Größe Österreichs). Doch 120 Jahre später, bis 1990, war das ungarische Niveau trotz der inzwischen erfolgten Fortschritte wieder enorm gesunken: Es erreichte nur noch 37 Prozent der westeuropäischen und 38 Prozent der österreichischen Wirtschaftsleistung. Zwar stieg das ungarische Einkommensniveau, doch langsamer als das westliche und das österreichische. Mit anderen Worten: Im Vergleich zu ihnen wurde Ungarns Rückstand immer größer.

Seit der Wende 1990 ist ein Dritteljahrhundert vergangen. Riesige, meist westliche Kapitalinvestitionen, die weit über die Hälfte aller Investitionen ausmachten, modernisierten die ungarische Wirtschaft. Exportfähige Industrien - siehe Automobilindustrie - wurden geschaffen. Die regierungsnahen Medien (etwa 80 Prozent aller Medien in Ungarn) verkünden deshalb auch ununterbrochen diese wirtschaftlichen Erfolge.

Und heute? Obwohl das ungarische Pro-Kopf-Einkommen gestiegen ist, hat sich sein Rückstand gegenüber dem Westen und der Situation von 1990 weiter vergrößert. Es erreichte im Jahr 2022 nur noch 28 Prozent. Ungarn verfügt heute nur noch über 35 Prozent des österreichischen Einkommensniveaus. Das vergleichbare durchschnittliche Nettomonatsgehalt in Ungarn beträgt 30 Prozent des niederländischen, 33 Prozent des österreichischen und etwas mehr als 70 Prozent des Durchschnitts der EU-Staaten in Mitteleuropa und auf dem Balkan. Mit anderen Worten: Anstatt den "untergehenden Westen" einzuholen, fiel Ungarn immer weiter zurück.

Macht statt Geld

Entgegen den Voraussagen der russischen und ungarischen Regierung, die den Niedergang des Westens permanent heraufbeschwören, haben die westeuropäischen Länder ihren Vorsprung in Bezug auf wirtschaftliche Entwicklung, Innovationsfähigkeit, technisches Niveau und Lebensstandard der Bevölkerung weiter ausgebaut. Und es geht nicht nur ums Geld. Die Lebenserwartung in den Ländern Westeuropas ist fünf bis zehn Jahre höher als in Ungarn oder Russland.

Die späteren Anhänger Spenglers vertieften sich offensichtlich nicht wirklich in das Studium des Meisters. Denn Spengler prophezeite den Aufstieg der Autokratie und der Diktaturen nach 2000. Er meinte, diese letzte Phase des Niedergangs des Abendlandes sei die Herrschaft der Machtpolitik statt der Herrschaft des Geldes. Heute scheint sich diese Machtpolitik jedoch nicht im Westen, sondern in der östlichen Hälfte Europas durchzusetzen. Daher erscheint uns die Rede vom Niedergang des Westens nur etwas verfrüht.