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Was hält unsere Gesellschaft zusammen?

Von Isolde Charim

Gastkommentare
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien.
© Daniel Novotny

Der Soziologe meint: die Angst.


Leben wir in einer "Gesellschaft der Angst"? Der bekannte deutsche Soziologe Heinz Bude vertrat diese These durchaus glaubwürdig letzte Woche in Wien. Ihr hat er auch sein neues Buch gewidmet. Natürlich gab und gibt es auch in anderen Gesellschaften Angst. Zu einer These wird diese Behauptung erst, wenn unsere Angst eine spezifische ist.

In den letzten Jahrzehnten habe, laut Bude, eine massive Verschiebung stattgefunden: von einer "Gesellschaft des Versprechens", wo Leistung mit Aufstieg belohnt wurde, hin zu einer "Gesellschaft der Bedrohung". Diese droht jedem jederzeit mit Abstieg, also mit Ausschluss. Hat man noch vor kurzem einer Gesellschaft durch Geburt, durch Herkunft angehört, so ist das Dazugehören heute Folge von Erfolg und Karriere. Ist es eine Befreiung, wenn gesellschaftliche Zugehörigkeit bedeutet, eine Position im sozialen Ranking einzunehmen? Diese erfordert eine geschickte Planung des eigenen Lebens. Von der Berufswahl bis zum Partner, vom Wohnort bis zur Lebensführung - wir haben die Wahl. Aber eine falsche Entscheidung können wir uns nicht leisten.

Wer aber bestimmt, was eine richtige und was eine falsche Entscheidung ist? Es sind dies, so Bude, die anderen. Die anderen beurteilen unsere Entscheidungen. Nicht weil sie eine moralische oder sonstige Instanz wären. Sondern weil das System der Rankings und Wertungen, die über unsere soziale Existenz entscheiden, ein System von Gerüchten ist. Die Skalen, die uns überall einordnen, die "likes", die unseren Wert bestimmen - all das sind nicht objektive Beurteilungen, sondern kollektive Phantasmen und Unterstellungen.

Unser gesellschaftliches Leben ist heute gänzlich paradox. Die Bewertung unserer Handlungen ist völlig externalisiert: Wir erhalten sie von den anderen. Wir sind "Radarmenschen", so Bude, die nicht ihrem inneren Kompass folgen, sondern außengeleitet sind. Zugleich aber ist die Verantwortung für unser Handeln völlig internalisiert. Wir müssen nicht nur selbst entscheiden - wir müssen auch die Folgen unseres Handelns selbst verkraften: Erfolg wie Scheitern wird uns ganz persönlich zugerechnet.

Wir leben also zugleich extrem vergesellschaftet und extrem vereinzelt. Kein Wunder, dass dies Angst erzeugt. Diese Angst ist keine psychische Störung, sondern ein gesellschaftliches Phänomen.

Die Unsicherheit hat heute alle Lebensbereiche durchdrungen. Wir leben umfassend prekarisiert: ökonomisch, sozial und emotional. Es gibt keine fixen Ankerplätze mehr. Angst ist die adäquate Antwort auf diesen Einbruch der Ungewissheit. Sie entspricht einer Gesellschaft auf schwankendem Boden. Angst ist der Zugang zu einer Wirklichkeit, die alle Sicherheiten, alle Gewissheiten aufgelöst hat. Sie ist die Form unseres Dazugehörens geworden. Angst, sagt Bude, ist der "Kitt unserer Gesellschaft".

Die "alte" Angst konnte in Wut gegen einen äußeren Feind umgemünzt werden. Wut aber kollektiviert, sie verbindet. Unsere Wut hingegen findet keinen Ausweg. Und Wut, die heruntergeschluckt wird, erzeugt Angst - jene "neue" Angst, die Angst vor dem eigenen Versagen. Diese Angst vereinzelt. Sie ist ein eigentümlicher "Kitt": Sie ist uns allen gemeinsam - alle haben Angst. Aber sie verbindet uns nicht. Das, was wir alle teilen, trennt uns.