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Die Flüchtlinge sind das Ende von Europa

Von Sebastian Corti

Gastkommentare

Dieser Titel, egal wie man ihn liest, ist natürlich kompletter Unsinn. Aber es gibt wenige, die meinen, dass die derzeitigen Antworten auf die Flüchtlingskrise adäquat sind. Es herrscht helle Aufregung in Österreich, in Europa, und ein Gefühl der Hilflosigkeit macht sich breit. Wie sollen wir mit täglich tausenden neuen Flüchtlingen umgehen? Die Antwort ist nicht einfach, und jeder, der das leugnet, ist entweder sehr naiv oder unehrlich.

Es lohnt sich, einen kühlen Kopf zu bewahren und auf Basis unseres europäischen Fundaments rasch und entschlossen zu handeln. Dieses Fundament ist die Rechtsstaatlichkeit, die so vielen Ländern fehlt, aus denen Menschen fliehen. Und dieses Fundament sind auch unsere vielbeschworenen Werte, die sich in einem Satz zusammenfassen lassen: Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst.

Zunächst zur Rechtsstaatlichkeit: Es kommen derzeit Flüchtlinge vor allem aus Syrien, aus Afghanistan, aber auch aus anderen Ländern zu uns. Allen gemeinsam ist, dass in ihren Herkunftsländern kein Rechtsstaat existiert, Korruption und Vetternwirtschaft blühen, das Recht auf Eigentum nicht gesichert ist, die Justiz nicht unabhängig agiert. Egal, wie man sich bemüht: Man ist der Willkür ausgesetzt. Jeder Mensch, der sich eine Existenz aufbauen will, muss entweder unethische Abkürzungen wählen oder das Land verlassen. Wenn möglich legal, wenn nicht, auch illegal. Das sind die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge. Dazu gehören auch viele, die aus Ländern kommen, wo Krieg herrscht, etwa Syrien oder Afghanistan. Nicht alle waren physischer Gewalt ausgesetzt. Aber alle leiden unter Gesetz- und Perspektivenlosigkeit.

Deshalb muss jede staatliche Entwicklungshilfe an die Umsetzung von Rechtsstaatlichkeit in den sogenannten Ländern des Südens gebunden sein. Der Rechtsstaat erst ermöglicht vormals sehr armen und korrupten Ländern, sich vielversprechend entwickeln - ich erinnere an Singapur, das zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit 1965 zur sogenannten Vierten Welt gehörte, damals sah kaum jemand Zukunftschancen für das Land. Dazu gehören aber auch Georgien, Polen und das Negativbeispiel Ukraine, das zum Zeitpunkt des Mauerfalls eine vergleichbare wirtschaftliche Ausgangssituation wie Polen hatte.

Rechtsstaatlichkeit im Umgang mit den Flüchtlingen

Rechtsstaatlichkeit ist aber auch erforderlich im Umgang mit den Flüchtlingen bei uns. Wenn zu wenig Kapazitäten vorhanden sind, um die geltende Gesetzgebung umzusetzen, dann müssen diese eben rasch erhöht werden. Die Gesetze müssen entschlossen eingehalten und sowohl den Flüchtlingen (realen und potenziellen) als auch der eigenen Bevölkerung klar kommuniziert werden, was ein Land leisten kann und was nicht. Dabei muss das Gemeinwohl im Auge behalten werden. Wenn man dieses überstrapaziert, ist das für niemanden zielführend. Hier sind Mut und Ehrlichkeit gefordert, in einem Wort: Leadership.

Zu unseren Werten: Europa und viele andere Länder des Nordens bauen auf einem christlichen Erbe auf. Der Aufruf zur Solidarität, der immer wieder erhoben wird, fußt auf Jesu Gebot: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Es ist sein zweitwichtigstes Gebot und eint heute viele Gläubige und Agnostiker. Wir müssen also, und wir wollen auch, den Flüchtlingen beistehen.

Nicht alle Flüchtenden können oder wollen sich in die Kultur der aufnehmenden Länder integrieren. Daher ist Hilfe zur Selbsthilfe vor Ort oft das Zielführendste - und nebenbei auch das Günstigste. World Vision tut das seit Jahrzehnten - wirksam und nachhaltig. Wir ermöglichen medizinische Grundversorgung, Bildung und nachhaltiges Einkommen, eingebettet in den lokalen Glauben und die Kultur, die erst die psychische Widerstandsfähigkeit fördert. Darüber hinaus versorgen wir Flüchtlinge in den Krisengebieten selbst mit dem Nötigsten. Aber wir können diese Arbeit nur in dem Maß ausweiten, in dem wir Mittel dafür erhalten - von Privatpersonen, Organisationen und Staaten, die die Mittel der Privaten vervielfachen können. Diese Skalierbarkeit können nur wenige leisten.

Verantwortung der Staatengemeinschaft

In allen Flüchtlingskrisen - Ungarn 1956, Mauerfall 1989, Jugoslawienkriege in den 1990ern - haben die Österreicher immer große Hilfsbereitschaft für Menschen in Not gezeigt. Auch heute werden viele Flüchtlinge in Eigenheime aufgenommen oder anderweitig privat versorgt. Umso wichtiger ist es, dass bei einer außergewöhnlichen Herausforderung wie der derzeitigen Flüchtlingskrise auch die europäische Staatengemeinschaft ihre Verantwortung wahrnimmt, rasch und unbürokratisch Erstversorgung und Registrierung abwickelt und Entscheidungen trifft und umsetzt, wem Asyl gewährt wird und wer nicht aufgenommen werden kann. Hier ist klares Leadership gefordert, das unsere Werte klar zum Ausdruck bringt, aber die Grenzen dessen kommuniziert, was unsere Länder zu leisten imstande sind.

Sebastian Corti (48) ist Geschäftsführer von World Vision
Österreich. Die internationale Hilfsorganisation ist derzeit im Einsatz
bei der Flüchtlingsbetreuung sowohl in und um Syrien als auch an der
serbisch-ungarischen Grenze.