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Abschied vom Rechtsstaat?

Von Andrea Kretschmann

Recht

Eine Fußfessel für Gefährder bedeutet eine starke Einschränkung der Grundrechte ohne strafrechtliche Grundlage.


Wien. Im Nachklang des Anschlags auf einen Berliner Weihnachtsmarkt knapp vor Jahresende hat Innenminister Wolfgang Sobotka eine lange Liste von Vorhaben zur Verbesserung der inneren Sicherheit präsentiert. Im Schulterschluss mit den deutschen Innen- und Justizministern schlägt er vor, Gefährdern künftig Fußfesseln anzulegen.

Seit dem nur knapp vereitelten Attentat in Wien vor zwei Wochen ist die Idee der Fußfessel für Gefährder nun endgültig in aller Munde, auch im aktualisierten Regierungsprogramm findet sich ein entsprechender Passus. Es geht dabei aber nicht einfach um eine Verschärfung im Bereich der Terrorismusbekämpfung, sondern um die Einführung eines neuartigen staatlichen Zugriffs außerhalb rechtsstaatlicher Prinzipien: Sobotka will de facto Bestrafungen für Fast-Verdächtige einführen. Justizminister Wolfgang Brandstetter, der dies "im Erlassweg" administrieren soll, hat bereits angekündigt, dass es die Fußfessel auch weiterhin als Alternative zur Untersuchungshaft und zur Strafhaft geben werde, aber nicht unterhalb dieser Linie. Sobotka bleibt hingegen bei seinem ursprünglichen Vorschlag.

Zwei Dinge passen dabei aber nicht zusammen: Die elektronische Fußfessel ist eine dem Gefängnis äquivalente Strafmaßnahme. Gefährder sind jedoch keine Täter, ihnen ist strafrechtlich nichts vorzuwerfen. Immer noch ist der Gefährder kein Rechts-, sondern nur ein polizeilicher Arbeitsbegriff - zu Recht. Denn er wurde nach 9/11 von deutschen Polizeien erfunden, um Ermittlungen und Kontrollen im Vor-Vorfeld unternehmen zu können. Anhand von Deutschland lässt sich das verstärkte Ausmaß der präventiven Ermittlungen und Maßnahmen der Polizei verdeutlichen, wenn man berücksichtigt, dass der Staatsschutz - also der operative Teil der Polizei; jener, der Straftaten verfolgt -, mit einem Mal im Aufgabenbereich des Verfassungsschutzes aktiv wird. Gemeint sind Tätigkeiten der Einstufung von Personen in die Kategorie Gefährder und ihre heimliche Überwachung im weiten, inhaltlich schwach bestimmten Bereich des so genannten extremistischen Vorfelds.

Wer ist ein Gefährder?

Gefährder ist laut deutscher Polizei jede Person, "bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des Paragraf 100a der Strafprozessordnung (StPO), begehen wird". Damit sind Straftaten gemeint, die mindestens im "Bereich der mittleren Kriminalität" angesiedelt sind.

Staatsschutzabteilungen setzen deshalb bei Gefährdereinstufungen auch nicht ausschließlich bei einer begangenen Tat oder einem konkreten Verdacht an. Die Unterscheidung zwischen legalem und illegalem Verhalten kann hier entfallen. Als Gefährder werden vom Staatsschutz Personen kategorisiert, von denen angenommen wird, dass diese in der Zukunft möglicherweise zu Tätern werden könnten. Die Polizei setzt als Ausgangspunkt also eine nicht näher konkretisierbare und nur möglicherweise sich in der Zukunft ausbildende diffuse Gefährlichkeit des Täters.

Mit der Einführung des Gefährders als Kategorie wird aber nicht einfach nur die Generierung von Verdacht erleichtert. Vielmehr wird auch das Verständnis von Verdacht und Kontrolle erheblich erweitert. Ob Kontakte zu anderen Personen, Bewegungsprofile und Verhalten - Erkenntnisse, die traditionell nur für die Beurteilung von Gefährdungslagen herangezogen werden, werden mit Einführung des Gefährderbegriffs verfolg- und "sanktionierbar".

Bereits Vermutungen der Polizei über beabsichtigte Handlungen einer Person können so Konsequenzen haben. In Deutschland etwa können Gefährder in ihren Grundrechten schon länger stark eingeschränkt werden. Das betrifft nicht nur die heimliche Überwachung. Wenn keine deutsche beziehungsweise nur eine "erworbene" deutsche Staatsbürgerschaft vorliegt, können auch Maßnahmen des Aufenthaltsgesetzes greifen.

Steigbügelhalter des Strafrechts

Gefährder können dann unter bestimmten Voraussetzungen abgeschoben oder ihr Aufenthaltsstatus auf das Niveau der Duldung herabgestuft werden. Mit diesem Status können tägliche oder wöchentliche Meldeauflagen bei der Ausländerbehörde und ein Arbeitsverbot einhergehen. Zudem herrscht Residenzpflicht. Den Betroffenen kann weiter angeordnet werden, ihre Wohnungen und ihr soziales Umfeld zu verlassen und in Flüchtlingsunterkünften zu leben; dies teilweise von dem Verbot begleitet, öffentliche Medien und Kommunikationsmittel zu nutzen.

Möglich werden Abschiebung oder Herunterstufung des Aufenthaltsstatus, weil das Aufenthaltsgesetz, anders als das Strafrecht, keine Unschuldsvermutung kennt. Personen, die unter das Aufenthaltsgesetz fallen, sind hier rechtsstaatlich deutlich weniger geschützt. Bei ihnen können Maßnahmen schon vor einer Verurteilung greifen.

Man kann diese Maßnahmen kaum anders als durch Kontrollen bedingte Sanktionen begreifen und damit als eine durch die Beamten in den aufenthaltsgesetzlichen Abteilungen ausgeführte Bestrafung außerhalb der Verurteilung. Bestätigt wird der Charakter dieser Maßnahmen mit den Vorhaben für ihre geplante Verschärfung: Den beschriebenen polizeilichen und aufenthaltsgesetzlichen Aktivitäten soll mit der elektronischen Fußfessel eine eigentlich als Strafe konzipierte Maßnahme präventiv zur Seite gestellt werden.

Schon Ermittlungen im Vor-Vorfeld anzustellen und auf dieser Grundlage Menschen heimlich zu überwachen, ist rechtsstaatlich mehr als bedenklich. Die Einführung einer staatlichen "Kontrollsanktion" wie der elektronischen Fußfessel bedeutet die noch tiefgreifendere Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien - in Form der Abschaffung der Unschuldsvermutung. Polizeien können dann selbständig über Freiheitsbeschränkungen von Bürgerinnen und Bürgern entscheiden. Sich von diesem Grundsatz abzuwenden, bedeutet, sich von einem wesentlichen Prinzip des Rechtsstaates zu verabschieden. Keine Terrorgefahr rechtfertigt dies.

Gastkommentar

Andrea

Kretschmann

ist Soziologin und Kriminologin. Derzeit forscht sie am Centre Marc Bloch der Berliner Humboldt Universität unter anderem zum Thema Gefährder in Deutschland.