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Der Einbruch der Kontingenz

Von Isolde Charim

Gastkommentare
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien.
© Daniel Novotny

So viel Veränderung und dennoch: keine Geschichte nirgends.


Erinnern Sie sich noch an das Wort vom "Ende der Geschichte"? Anfang der 90er Jahre machte es die Runde. Jetzt kommt es einem wieder in den Sinn. Gerade jetzt. Wo so viel passiert - und dennoch keine Rückkehr der Geschichte in Sicht zu sein scheint.

Schon die Finanzkrise von 2008 hat deutlich gezeigt: Gesellschaftliche Veränderung geht auch ohne willentliches Handeln. Damals ist das System heiß gelaufen. Systemversagen - und eben nicht Geschichte. Also massive Veränderungen ohne Handeln, ohne Plan, ohne Ziel.

Und nun - taucht nun mit den Flüchtlingen die Geschichte wieder auf? Es ist dies immerhin eine Bewegung, eine Veränderung, weil Menschen sich entschlossen haben zu handeln. Weil Menschen auf Situationen, denen sie ausgesetzt sind, reagieren. Mit Aufbruch. Ist das Getrieben-Sein oder schon Handeln? Oder ist das Handeln des Einzelnen kein solches für die Masse?

Hier wird es jedenfalls nicht als Rückkehr der Geschichte erlebt, sondern als Einbruch der Kontingenz. Als Einbruch des Unerwarteten, des Nicht-Vorhergesehenen und des Nicht-Vorgesehenen in unsere Welt.

Es fallen Begriffe wie "Epochenschwelle". Und man fragt sich: Wer vollzieht den Übergang? Wer ist hier der Akteur? In welchem Szenario?

Da gibt es jene, die meinen, das Geschehen ließe sich nicht lenken. Von einer "Rhetorik der Alternativlosigkeit" spricht Ijoma Mangold diesbezüglich in der "Zeit". Eine Rhetorik, die meint, die Grenzen seien ohnehin nicht zu sichern. Es gäbe kein Handeln, nur ein Verwalten, ein Organisieren der Situation. Dieser Situation wird durch einen Schwall an Metaphern jegliche Handlungsdimension abgesprochen: der Kochtopf, der unter Druck steht. Der Damm, der den Strom nicht aufhalten kann, höchstens umlenken. Metaphern der Physik, der Naturgewalten. Gerade angesichts der gesellschaftlichen Großaufgabe, die jetzt ansteht, ist dieses Abdanken jeglicher Vorstellung von Handeln doch erstaunlich. Es scheint ein allseitiges Reagieren. Kein Handeln nirgends.

Und dann ist da noch die andere Seite - das sind jene mit den eminenten Handlungsphantasien. Aber es sind Handlungsphantasien, die sie anderen unterstellen. Sie sehen ein Handeln - nicht bei jenen Leuten, die kommen, sondern hinter ihnen. Selbst jemand wie Peter Sloterdijk spricht von "gelenkten" Flüchtlingsströmen! Gelenkte! Es gibt sie also noch, die gute alte Handlungsmacht. Irgendwo da draußen. Bei den anderen. Dort vermuten sie auch weniger illustre Verschwörungstheoretiker. Es ist doch erstaunlich, dass selbst jene, die nun nach einem mehr oder weniger martialischem Vorgehen rufen, das Handeln nur außerhalb sehen - nur dort, wo sie es welchen dunklen Mächten auch immer unterstellen. Damit wird ihr Vorgehen zur Reaktion, zur Abwehr eines Handelns der Anderen.

Wir haben also die paradoxe Situation, an einer "Epochenschwelle" zu stehen, eine fest etablierte Ordnung in eine Transformationsgesellschaft zu verwandeln - ohne dass es ein Handeln gäbe. Ohne Handelnde. Ohne Akteure. Nur Reaktionen allerorts.

Die alte Form der Geschichte findet sich nur noch bei Verschwörungstheoretikern. Die neue Form gibt sich nur als Einbruch der Kontingenz zu erkennen. Vielleicht sind wir doch am "Ende der Geschichte" angelangt. Gerade in solch bewegten Zeiten.