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Eine fragwürdige Spruchpraxis

Von Peter Zweimüller

Gastkommentare

Der Urteilsspruch der Verfassungsrichter zur ersten Hofburg-Stichwahl wurde in den vergangenen Monaten immer öfter kritisiert. Unmittelbar nach der Veröffentlichung haben noch fast alle Kommentatoren und Politiker das Urteil gelobt. Erst als der Doyen der österreichischen Verfassungsrechtler, Heinz Mayer, seine ursprüngliche Zustimmung zum Urteilsspruch des VfGH zur Bundespräsidentenwahl änderte und ihn als "klares Fehlurteil" bezeichnete, wurde die "langjährige strenge Spruchpraxis" genauer unter die Lupe genommen.

Bei dieser Praxis wird, wie bekannt, die laut Artikel 141 im Bundes-Verfassungsgesetz für die Wahlwiederholung notwendige Phrase "von Einfluss ist" zu "von Einfluss sein konnte/könnte". In der Urteilsbegründung wird entsprechend dieser Auslegung festgestellt, dass alle rund 70.000 Wahlkartenwähler in den beanstandeten Bezirken theoretisch Norbert Hofer gewählt haben könnten und dieser dann die Wahl gewonnen hätte. Wie absurd diese Annahme ist, zeigt, dass dann anschließend zwingend rund 30.000 aktive Wahlkartenmanipulationen stattgefunden haben müssten. Nur dadurch hätte die Übereinstimmung zum vorliegenden Wahlergebnis hergestellt werden können.

Obwohl in der Urteilsbegründung ausdrücklich festgestellt wurde, dass es keinen Hinweis auf Manipulationen gab, war genau dieses Rechenmodell die formale Begründung für das Urteil. Da "mathematisch-statistische Analysen letztlich nur zeigen, dass Manipulationen unwahrscheinlich sind", waren sie für den VfGH nicht zulässig. Eine solche Analyse kann aber Konsistenzen und Inkonsistenzen in Datenbeständen mit sehr hoher Treffsicherheit identifizieren. Das haben die Mathematiker Walter Schachermayer und Erich Neuwirth bei ihren Untersuchungen, ob das Wahlergebnis beeinflussende Manipulationen vorgelegen sind, mit eindeutigem Ergebnis getan: Ein Lottosechser ist demnach tausendmal wahrscheinlicher.

Man muss aber feststellen, dass die Ablehnung von statistischen Methoden noch immer von vielen Juristen geteilt wird. Für den Verfassungsjuristen Theo Öhlinger sind die statistischen Betrachtungen diffizil und schwer nachvollziehbar. Sehr interessant ist seine Einschätzung, dass die sich gegenseitig kontrollierenden, politisch nominierten Wahlbeisitzer mit ihrer Unterschrift unter die Wahlprotokolle in erster Linie bezeugen wollen, dass das Wahlergebnis korrekt ermittelt wurde. Er hält dieses System für sehr effektiv. Wahlvorschriften und -verordnungen sind aus Sicht der Beisitzer vor allem formalistisches und bürokratisches Beiwerk, die eine Überregulierung des Wahlprozesses verursacht haben. Öhlinger hält deshalb die Urteilsbegründung wegen möglicher Manipulationen für falsch.

Wahlkampf noch am Wahltag

Für ihn ist aber die zweite Begründung des VfGH, die Weitergabe von Wahleinzeldaten an ausgewählte, seriöse Institute durch das Innenministerium, richtig. Ich glaube aber nicht, dass die vorzeitigen Informationen in den sozialen Medien dort ihren Ursprung hatten. Für mich ist das System der von den Parteien entsandten Wahlbeisitzer dafür viel anfälliger. Das wird sicher in Zukunft noch häufiger passieren - die sozialen Medien werden ja immer mehr als Wahlkampfwerkzeuge benutzt. Wohl oder übel wird man sich daran gewöhnen müssen, dass auch am Wahltag noch ungebremst Wahlkampf geführt wird. Die Spruchpraxis erschließt aber auch hier große Möglichkeiten: Ein paar eidesstattliche Geständnisse von Beisitzern können die Sache ins Rollen bringen, und es ist theoretisch wieder vieles möglich.

Zusammengefasst: Für mich ist nicht nachvollziehbar, warum der VfGH beim vorliegenden Gesetzestext ein Beweisverfahren gar nicht in Erwägung zieht und keine wissenschaftlich anerkannten Analysen beziehungsweise Gutachten zulässt. Da ist eine Rechtssprechung im Konjunktiv und der theoretischen Möglichkeiten entstanden, die ohne Wahrheitsfindung auskommt - weil es möglich gewesen sein könnte, wird sogar ohne Verdacht die "Höchststrafe" (bundesweite Wahlwiederholung) ausgesprochen.

Wenn ich mir nun vorstelle, was alles theoretisch möglich ist - und mit welchen Methoden und Argumenten Populisten heute erfolgreich Politik machen -, macht mir dieser totalitäre Ansatz, der Missbrauch geradezu herausfordert, Angst. Ich habe bis jetzt auch gedacht, dass Höchstgerichte nur in Staaten mit totalitären Regimen Beweise so einfach ignorieren können. Aber natürlich gilt hier genauso wie beim Papst: "Rom hat gesprochen, die Sache ist erledigt."

Dabei steht für mich der Missbrauch im Vordergrund. Ex-VfGH-Präsident Ludwig Adamovich hat dazu eine aufschlussreiche Antwort gegeben. Auf die Frage, ob eine perfekt ablaufende Wahl nicht ohnehin eine Illusion sei, meinte er: "Es ist für darin Geübte keine Kunst, nach Wahlen einen Streitfall zu konstruieren. Ich hoffe, man wird es nicht wieder(!) machen." Wenn das nicht nur eine Hoffnung sein soll, muss man sich von dieser Spruchpraxis verabschieden. Fakten und die Erkenntnisse von anderen Wissenschaften dürfen nicht mehr ignoriert werden.

Die Richter sollen in Zukunft ihren Rechtsspruch klar und vernünftig argumentieren können und nicht mehr befürchten müssen, dass sie für Partikularinteressen instrumentalisiert und Handlanger bei generalstabsmäßig geplanten Aktionen werden.

Zum Autor

Peter
Zweimüller

ist Pensionist.
Er war Vorstand beziehungsweise Geschäftsführer mehrerer international tätiger Unternehmen (Austrian Energy, Mannesmann Anlagenbau, Sulzer Escher Wyss/Deutschland).