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Europäische Antworten auf europäische Bedrohungen

Von Walter Feichtinger

Gastkommentare

Wann, wenn nicht jetzt, braucht die Europäische Union eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik?


Im Juni 2016 hat die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini die neue Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU präsentiert. Die Begleitumstände waren nicht gerade günstig, hatte doch soeben Großbritannien den Austritt aus der EU beschlossen, die Flüchtlings- und Migrationsfrage steckt unverändert in einer Sackgasse, und zahlreiche islamistisch motivierte Terroranschläge an europäischen Orten haben Ängste geschürt und strategische Grundsatzüberlegungen in den Hintergrund gedrängt. Auch die Umsetzung der Strategie aus dem Jahr 2003 ist weit hinter den Erwartungen geblieben, wofür eine Mischung aus unangebrachtem Optimismus sowie nationale Alleingänge und die "Zurückhaltung" vieler Mitglieder verantwortlich waren.

Derzeit jedoch drängt sich in Folge der geopolitischen Umbrüche in Europas mittel- und unmittelbarer Nachbarschaft die Forderung nach einer verstärkten sicherheitspolitischen Zusammenarbeit geradezu auf. Nur zur Erinnerung: Welcher Kontinent ist den Kriegen im Nahen Osten am nächsten? Wohin richten sich die Wanderbewegungen aus dem afrikanischen Raum und dem Mittleren Osten? Welche Region befindet sich besonders im Visier der Terrororganisation IS? Und wer ist von den russischen Revisionsbestrebungen am meisten betroffen? Richtig - es handelt sich um Europa. Jenes Europa, dessen Staaten zum überwiegenden Teil bereits in der EU sind oder eine Mitgliedschaft anstreben. Zudem ist unklar, ob sich die USA weiterhin im selben Ausmaß für die Sicherheit in und um Europa engagieren wollen.

Verpflichtung zur Kooperation

Die Notwendigkeit einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist aufgrund der geopolitischen Lage, des globalen Wettbewerbs, des sinkenden Einflusses Europas sowie der sicherheitspolitischen Abhängigkeit von den USA offenkundig. Mittlerweile dürfte in den meisten Hauptstädten Europas auch angekommen sein, dass überzogenes Sparen im Sicherheitsbereich zu begrenzter Handlungsfähigkeit führt und die Bevölkerung in hohem Maße verunsichert. Ergänzt man diese Betrachtung um das Faktum hybrider Bedrohungen, die auf die Lähmung und Erpressung von Politik und Gesellschaft abzielen und die keine nationalen Grenzen kennen, dann wird aus der Notwendigkeit zur Kooperation geradezu eine Verpflichtung.

Es wäre müßig, auf das Argumentarium jener näher einzugehen, die für eine Renationalisierung und das "Zurückholen" von Kompetenzen aus Brüssel plädieren. Denn europäische Risiken und Bedrohungen erfordern europäische Antworten, nicht nur österreichische, portugiesische, finnische oder deutsche. Allerdings sind dabei zwei entscheidende Faktoren zu berücksichtigen: Erstens ist der harte militärische Verteidigungsbereich nach der Krise um die Ukraine wieder fest in der Nato verankert. Somit wäre es utopisch, in der nächsten Dekade dessen Verlagerung zur EU zu erwarten. Zweitens haben die vergangenen 15 Jahre gezeigt, dass sich die Risiko- und Bedrohungslage in den europäischen Regionen signifikant unterscheidet. Die ausschließliche Betonung gemeinsamer, für manche EU-Mitglieder jedoch abstrakter europäischer Risiken und Bedrohungen kann daher nicht alle gleichermaßen ansprechen und zur Mitwirkung an der gemeinsamen Sicherheitspolitik bewegen. Ihr Engagement hängt vermutlich in hohem Maße davon ab, wie stark ihre geografisch näher liegenden, unmittelbaren Sorgen und Probleme im EU-Rahmen wahrgenommen und behandelt werden.

Ansätze zur Stärkung

In einer Zusammenschau eröffnen sich Ansätze, die eine Stärkung der gemeinsamen EU-Sicherheitspolitik bewirken könnten. Folgende fünf Ableitungen sind zu treffen:

1. Die sicherheitspolitische Lage in und um Europa erfordert eine differenzierte Analyse, die eine Balance zwischen regionalen, europäischen und globalen Erfordernissen bietet. Eine verstärkte Kooperation in unterschiedlichen Formaten könnte den Willen zur Zusammenarbeit stärken und vertrauensbildend wirken.

2. Die EU sollte vorrangig jene Probleme behandeln, die aus Sicht der Bevölkerung am gravierendsten sind. Flucht-, Migrations- und Integrationsfragen stehen ganz oben, da sie den sozialen Frieden gefährden können, gefolgt von islamistischem Terrorismus. Ein "Solidaritätsdiktat" wird dabei nicht hilfreich sein, mehr Flexibilität innerhalb der EU und Fortschritte beim Schutz der EU-Außengrenze könnten hingegen als nationaler und europäischer Erfolg verkauft werden.

3. Der Auf- und Ausbau verteidigungspolitischer Kapazitäten hat aus Gründen der Effizienz und Effektivität verstärkt einem gesamteuropäischen Plan zu folgen. Ob das nun formal unter Nato- oder EU-Dach erfolgt, ist nachrangig - entscheidend ist vielmehr, dass die Ära der "Bonsai-Armeen" und der Mehrgleisigkeiten vor allem im Rüstungssektor beendet wird und die Abhängigkeit von den USA zum beiderseitigen Nutzen abnimmt.

4. Die Nato wird weiterhin den harten Kern der militärischen Verteidigung bilden. Allerdings erfordert das heutige Bedrohungsspektrum vermehrt ein umfassendes, kreatives und an Nachhaltigkeit orientiertes Verständnis von Sicherheit, in dem die EU einen stabilen Rahmen und zivile wie militärische Mittel vorzuweisen hat. Das kann sowohl bei der gegenseitigen Beistandsleistung von EU-Staaten als auch beim internationalen Krisen- und Konfliktmanagement etwa in einem Post-Kriegs-Syrien oder in Mali von Nutzen sein.

5. Die Anfänge der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik waren von internationalen Missionen geprägt, sie haben der EU weltweit Aufmerksamkeit, Anerkennung und Selbstvertrauen gebracht. Diese emotionale und psychologische Komponente wird derzeit vollkommen vernachlässigt. Nun aber wird ein Rahmen geboten, in dem sowohl die Mitgliedstaaten als auch "unsere EU" als Gewinner gelten können. Dazu wäre es aber notwendig, das Engagement (Stichwort Battlegroup-Einsätze) auszubauen und auch öffentlichkeitswirksam darzustellen.

Vertrauen in die EU

Trotz aller Widrigkeiten und Verunsicherungen ist die EU weder gescheitert noch hat eine gemeinsame Sicherheitspolitik an Potenzial verloren. Ganz im Gegenteil, denn der Sicherheitsbereich steht in der öffentlichen Erwartung und auf der politischen Agenda ganz oben. Wer dabei heute noch verkündet, globale Herausforderungen mit rein nationalen Ansätzen meistern zu können, hat entweder die Entwicklung verschlafen oder führt bewusst in die Irre. Erforderlich sind vielmehr Selbstbewusstsein und Vertrauen in die europäische Leistungsfähigkeit.

Eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU ist daher unverändert als Chance und Notwendigkeit zu begreifen und wirft zuletzt die somit rhetorische Frage auf: Wann, wenn nicht jetzt?

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem Buch "25 Ideen für Europa", das im Eigenverlag der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik erscheint. Kostenlose E-Book-Version unter: www.oegfe.at/25ideenfuereuropa