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Europa ohne Populismus

Von Karl Aiginger

Gastkommentare

Gastkommentar: Wie ein starkes Europa mehr nationalen Spielraum schaffen könnte.


Die Menschen in Europa erwarten ein besseres Leben, doch die Rahmenbedingungen werden schwieriger: Der Klimawandel, politische und wirtschaftliche Instabilitäten, Migrationsströme und neue Technologien gefährden die Wohlfahrt oder tragen zumindest zu steigender Unsicherheit bei. Dies könnte durch Kooperation - global und innerhalb der EU - besser bewältigt werden. Eine stärkere gemeinschaftliche Politik kann Arbeitslosigkeit und Ungleichheit reduzieren und Europa eine Führungsrolle im Kampf gegen den Klimawandel verschaffen.

Allerdings steigt das Misstrauen sowohl gegenüber der als zentralistisch wahrgenommenen europäischen Politik als auch gegenüber der Globalisierung, die als beängstigend und fremdbestimmt empfunden wird. Positive Trends, wie der weltweite Rückgang von absoluter Armut und Säuglingssterblichkeit oder steigende Lebenserwartung, werden nicht als Erfolge koordinierter Politik gesehen. Umgekehrt werden europäische Regulierungen, die in nationale oder nur partikulare Interessen Einzelner eingreifen und etwaige negative Aspekte, sehr wohl als Folge internationaler Politik wahrgenommen (und negative Aspekte übertrieben). Vier Reformvorschläge könnten helfen:

1 Eckpfeiler für nationale Steuersysteme

Die Mitgliedsländer sollten weiter über das Steuersystem, die Abgabenhöhe und ihre Struktur bestimmen. EU-Regelungen sollten jedoch einen Rahmen setzen, in dem jedes Land sein Steuersystem stärker nach den ökonomischen, sozialen und ökologischen Zielen orientieren kann. So könnten Umgehungs- und Umlenkungseffekte (unversteuerte Importe, Tanktourismus, steuermotivierte Verlagerung des Headquarters) vermieden werden. Ein Pfeiler für diese bessere Gestaltung der nationalen Steuersysteme wären europaweite Mindesttarife oder Bandbreiten für Umsatz-, Emissions- und Kapitalertragssteuern. Bei bestimmten Steuerarten sollte darüber hinaus in allen Ländern die gleiche Bemessungsgrundlage gelten. Ein zweiter Pfeiler wären Verbote von oder zumindest Transparenz für Vereinbarungen, die die Steuerplicht einzelner Unternehmen verringern. Ein dritter Pfeiler wäre ein "country by country reporting" von Aktivitäten, um die Verlagerung der Abgabenpflicht in Steueroasen zu vermeiden.

Heute wird der Faktor Arbeit am höchsten besteuert, obwohl dies die Arbeitslosigkeit erhöht. Große Vermögen und Erbschaften sind hingegen steuerbefreit, weil sie in Steueroasen verlegt werden können. Aktuell besteuern Mitgliedsländer Tätigkeiten, die Folgekosten bei Gesundheit und Umwelt erzeugen, sehr gering, da sie ihr Abgabensystem an der Verlagerungsgefahr und nicht an gesellschaftlichen Prioritäten orientieren.

2 Prinzipien für eine innovative Klimapolitik 

Europa hat sich zum Ausstieg aus der fossilen Energie bis 2050 verpflichtet und könnte dieses Ziel dazu nutzen, Technologieführer bei Energieeffizienz und alternativen Energien zu werden. Die Politik der Mitgliedsländer wird aber von bestehenden Energieanbietern, konventionellen Technologien und vorhandener Infrastruktur bestimmt.

Eine Wiederbelebung des EU-Emissionshandels, eine Koordination der Stromnetze und ein Subventionsverbot für fossile Energie und neue Atommeiler hätten eine Reihe positiver Folgen. So würden etwa die Entwicklung alternativer Energie, neuer Antriebssysteme und Baumethoden sowie eine neue Raum- und Städteplanung ermöglicht. Jedes Land könnte in jenen Bereichen innovativ sein, in denen es die größten Chancen sieht. Da Innovation ein Entdeckungsprozess ist, sind "bottom-up"-Ansätze bei gegebenen europäischen Rahmenbedingungen wie Mindeststeuern für Emissionen inklusive Luft- und Schifffahrt auch technologisch erfolgreicher. Das einzelne Land muss sich nicht im selben Ausmaß entscheiden, ob Elektroantriebe oder Wasserstoff fossile Treibstoffe besser ersetzen können.

3 Europäische Koordination der Konjunkturpolitik 

Erhöht ein kleines EU-Land seine Investitionen, steigt die Inlandsnachfrage nur wenig, weil Staatsausgaben zum Teil zu Aufträgen in den Nachbarländern führen. Eine antizyklische gebündelte Nachfragepolitik auf EU-Ebene wäre wirksamer. Noch positiver wären die langfristigen Effekte, wenn die Ausgaben technologische Kapazitäten oder berufliche Skills betreffen, da dann die Defizite aus einer höheren Wirtschaftsleistung zurückgezahlt werden.

Derzeit erfolgt die Koordination über den Fiskalpakt, einen jährlichen Wachstumsbericht, das Europäische Semester und landesspezifische Empfehlungen. Diese Architektur ist zum Teil an wirtschaftlichen und politischen Ungleichheiten zwischen den einzelnen Ländern gescheitert. Europa konnte daher im Gegensatz zu den USA erst 2016 wieder das Produktionsniveau vor der Finanzkrise erreichen. Gemeinsame Regeln, wann Defizite auszuweiten oder einzuschränken sind, würden auch die Arbeitslosigkeit senken. Eine zentrale Schuldenaufnahme europäischer Länder würde die Zinsen senken. Ein Schwerpunkt der Ausgaben auf die Verbesserung der Lebensbedingungen würde den EU-Ländern Dynamik, Jobs und ökologische Überlegenheit bringen.

Innerhalb dieser Rahmenbedingungen - Konjunktursteuerung, niedrige Zinsen und Vorrang von immateriellen Investitionen - könnte jedes Land Abgaben senken oder Ausgaben erhöhen. Es könnte die Schuldenhöhe anhand der möglichen Erträge von Investitionen oder des Einsparungspotenzials in der Verwaltung beurteilen. Heute ist die Konjunktur- und Wachstumspolitik der einzelnen EU-Länder durch hohe Zinssätze und die befürchteten Reaktionen der Finanzmärkte im Handlungsspielraum eingeschränkt und wird durch die wirtschaftspolitischen Empfehlungen der EU-Kommission bestimmt, die auch politische Wertungen und Machtverhältnisse widerspiegelt. Sanktionen wegen zu hoher Defizite oder Überschüsse können auch aus politischen Überlegungen und Kräfteverhältnissen nicht durchgesetzt werden.

4 Europäische Werte global durchsetzen 

Die Dynamik der neuen Industriestaaten verringert Europas Einfluss in internationalen Gremien. Die größten EU-Länder repräsentieren einzeln weniger als 5 Prozent der Weltwirtschaft, die kleineren Länder etwa 1 Prozent. Die EU hingegen ist durch das Wachstum ihrer neuen Mitglieder der größte Wirtschaftsraum der Welt. Sie könnte europäische Präferenzen über internationale oder bilaterale Verträge durchsetzen. Historisch bedingte Regulierungen, die Märkte absichern und zu einem hohen Preisniveau führen, sollten abgebaut werden.

Nur eine gemeinsame EU-Politik kann Standards durchsetzen, die im europäischen Wertesystem begründet sind oder generell den Präferenzen von Staaten mit hohen Einkommen entsprechen (Sozialleistungen, Umweltschutz, Mitspracherechte). Gesellschaftspolitisch begründete Standards sollten auch von Gerichten nicht beseitigt werden dürfen. Ihre weltweite Angleichung nach oben würde auch Technologieexporte aus Europa sowie soziale und ökologische Innovationen stärken.

Die Verlierer der Globalisierung in den Industrieländern - gering qualifizierte Arbeitskräfte in einfachen Industriejobs - müssen rechtzeitig umgeschult werden. Innereuropäische Migration mag eine temporäre Erleichterung bringen, längerfristig sind aber höhere Qualifikationen nötig. Europäische Initiativen in der Arbeitsmarktpolitik (Lehrlingssysteme, lebenslanges Lernen) helfen, besonders wenn auch Experimente und soziale Innovationen unterstützt werden.

Europa kann internationale Abkommen für eine wohlfahrtsorientierte Globalisierung stärker nutzen als einzelne Mitgliedsländer. Verschließt sich Europa der Globalisierung, sinkt die Produktvielfalt, und die Preise steigen besonders für den Warenkorb bei niedrigen Einkommen.

Erfolgschancen einer neuen Politik

Gemeinsame Politik muss sichtbar zur Lösung vorrangiger Probleme beitragen, etwa die Arbeitslosigkeit senken und die Lebensbedingungen verbessern. Zweitens muss sie sich auf Bereiche konzentrieren, in denen ihre Vorteile nachgewiesen werden können. Dies ist etwa in einem größeren Forschungsraum, durch die Berücksichtigung der Wirkungen auf die Nachbarn und das Weltklima oder der Bereitstellung öffentlicher Güter wie Sicherheit und Mobilität der Fall. Und die Politik muss drittens den Spielraum für technische, soziale und ökologische Innovationen ausweiten.

Eine relativ günstige Konjunkturlage kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die wirtschaftliche Aktivität in der EU erst 2016 das Vorkrisenniveau erreicht hat und die Arbeitslosigkeit höher ist als vor der Finanzkrise. Ein dynamisches Europa baut Schulden ab und kann Ungleichheiten leichter reduzieren. Es soll aber nicht der alte Weg unkoordinierter staatlicher Defizite beschritten werden: Neue Technologien und Energieeffizienz können Europa zum Weltmarktführer in der Dekarbonisierung machen. Die Verringerung der Ungleichheit und Investitionen in die ökologische Exzellenz verbessern die Lebensbedingungen und stärken den Konsum. Europa sollte sich das Ziel setzen, eine Region mit hoher und steigender Lebensqualität zu sein. Wirtschaftliche Dynamik, sozialer Zusammenhalt und ökologische Nachhaltigkeit könnten das BIP (und sein Wachstum) als Erfolgsmaße ablösen. Diese wären stärker mit den konkreten Lebensbedingungen verbunden.

Triebkraft der Einigung Europas war das Friedensprojekt. Binnenmarkt und gemeinsame Währung schufen dann den größten Wirtschaftsraum der Welt, sind aber keine ausreichende Motivation für eine breite Zustimmung der Bevölkerung. Ein neues Narrativ könnte eine europäisch gestaltete Globalisierung sein, die die Anerkennung sozialer und ökologischer Standards und die Ablehnung von Protektionismus, Zäunen und Mauern verlangt.

Europa hat mit seiner Priorität von Lebensqualität, sozialem Ausgleich und ökologischer Exzellenz ein besseres Modell zu bieten als Asien oder die USA. Der Schlüssel zu Erfolg und Akzeptanz ist eine Kombination aus zentraler Politik und dezentraler Umsetzung.

Zum Autor

Karl Aiginger

ist Professor an der WU Wien und Leiter der "Querdenkerplattform: Wien - Europa" (www.querdenkereuropa.at). Von 2005 bis 2016 war er Direktor des Wifo, von 2012 bis 2014 Koordinator einer neuen Strategie für Europa für die EU-Kommission (www.foreurope.eu).

Eine Langfassung dieses Kommentars ist als "Working Paper 1/2017" und als "Policy Brief 1/2017" der "Querdenkerplattform: Wien-Europa" erschienen: www.querdenkereuropa.at