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Bringen wir den gesellschaftlichen Reichtum zum Vorschein

Von Holger Blisse

Gastkommentare
Holger Blisse ist Lehrbeauftragter und unter anderem auf kreditwirtschaftliche, genossenschaftliche und sozialpolitische Themen spezialisiert.

Die Quelle des materiell sichtbaren Reichtums, aber auch eines ideellen, der nicht nur Sicherheit und Gesundheit, Bildung und Entwicklung umfasst, liegt in dem begründet, was aus der Arbeitsteilung in einer Gesellschaft entspringt, aus all den Berufstätigkeiten, Selbständigkeiten und Unternehmungen, aus bezahlter und unbezahlter Arbeit. Wenn es dafür ein Arbeitseinkommen in Geld gibt, fließen davon Steuern und Sozialabgaben an den Staat für seine Ausgaben. Doch dieses Geld reicht nicht mehr aus. Der Staat tritt in Vorleistung und nimmt zusätzlich Geld auf, um zu investieren oder auch Aufwendungen zu bestreiten, er verschuldet sich.

Erlauben wir uns, einen schuldenfreien Staat zu denken. Dann könnte ein dazu führender innergesellschaftlicher Ausgleich gerade dort ansetzen, wo die Arbeitsteilung die Menschen trennt, indem sie ihnen je nach unterschiedlicher Aufgabe unterschiedliches Arbeitsleid beziehungsweise unterschiedliche Arbeitslust bereitet und ihnen einen individuellen Arbeitslohn zurechnet. Dieser ist bei den unselbständig Beschäftigten das Ergebnis von sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen (in Form von Kollektivverträgen) oder kommt - zumeist in den oberen Gehaltsklassen - je nach Angebot und Nachfrage zustande.

In der Schweiz kam es im November 2013 zu einer Volksabstimmung über die Aufnahme eines Artikels 110a (Lohnpolitik) in die Bundesverfassung mit dem Leitsatz: "Der höchste von einem Unternehmen bezahlte Lohn darf nicht höher sein als das Zwölffache des niedrigste vom selben Unternehmen bezahlten Lohns." Diesen Vorschlag lehnte die Bevölkerung bei einer Stimmbeteiligung von 53 Prozent mit 65,3 Prozent der Stimmen ab.

Das Einkommen bestimmt den individuellen Lebensstandard

Möglicherweise sah man dies als einen zu starken und mit der Zahl 12 willkürlichen Eingriff in die Freiheit des Marktes an. Zweifellos sind unterschiedlich hohe Einkommen - auf ein Leben gerechnet: sehr unterschiedliche Lebenseinkommen - mitverantwortlich für persönlichen Wohlstand und persönliches Wohlergehen im Alter. Auch die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten schon vorher, zum Beispiel in einer eigenen Wohnung, vielleicht sogar im Eigentum wohnen zu können, Lebensmittel ausgewogen und in guter Qualität kaufen zu können, eine Familie zu gründen und dem Kind oder den Kindern eine gute Ausbildung finanzieren zu können, das alles "bezahlt" in einer Gesellschaft an erster Stelle das (Geld-)Einkommen.

Wenn es heute für die Jüngeren immer schwieriger wird, in den Arbeitsmarkt einzutreten, wo vor allem bestimmte Qualifikationen nachgefragt und vergleichsweise überbezahlt werden, wenn Ältere in der Sorge, ihren eigenen Arbeitsplatz zu verlieren, Jüngeren den Aufstieg zu verwehren versuchen oder sie überhaupt aus dem Arbeitsprozess verdrängen, wenn Kolleginnen und Kollegen einander das Leben schwer machen, dann sind nicht nur die innerbetrieblichen Konfliktlösungsmechanismen gefragt, sondern es wird auch das Sozialsystem durch Kosten belastet, die sich zum Beispiel durch krankheitsbedingte Arbeitsausfälle, Arbeitslosigkeit oder Rehabilitationsleistungen ergeben.

Das heißt, in einem zu Höchstleistungen aufgrund von erreichbar möglichen Spitzengehältern treibenden Anreizsystem starten viele gar nicht beziehungsweise bleiben auf dem Weg nach oben auf der Strecke. Sie werden, wie bei der Sanierung der auch von ihren Finanzmarktaktivitäten geschädigten Banken, am einfachsten und zugleich glücklicherweise, von der Allgemeinheit aufgefangen. Doch die Allgemeinheit, wie die Diskussion um die Finanzierung der Mindestsicherung in Wien zeigt, ist an ihre Belastungsgrenzen gestoßen oder hat sie sogar schon überschritten.

Im Wissen um diese sichtbar gemachte relative Ungerechtigkeit setzt die Suche nach einem Ausgleich bei den Differenzen der Löhne und Gehälter zum Beispiel in einem Unternehmen an. Die Entscheidung für ein Lohn- oder Gehaltsschema verbleibe in der Autonomie jedes Dienstgebers. Aber die daraus resultierenden Folgen, wie sie heute mit den beschriebenen Beispielen die Allgemeinheit trägt, dürfen nicht "externalisiert" werden.

Doch wir haben es im Laufe der Zeit versäumt, den Preis für die gesellschaftliche Arbeitsteilung zu zahlen. Wenn wir dies innerhalb der Diskussion um ein bindungsloses Grundeinkommen und eine Maschinensteuer nachholen, dann gewinnen wir möglicherweise nicht nur eine Quelle für weitere Einnahmen eines Gemeinwesens, sondern wir stärken auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt, indem wir mehr Akzeptanz für die weiterhin bestehen bleibenden Unterschiede schaffen und zugleich doch den Preis dafür entrichten.

Dies gibt denen, die in diesem System und im Wettlauf um Positionen und Gehälter buchstäblich auf der Strecke bleiben, das Bewusstsein, dass ihr Scheitern im oder am System von diesem doch so verkraftet werden kann, dass das System selbst darin nicht weiter verarmt. Im Gegenteil, es würde in die Lage versetzt, aus der bezeichneten Quelle seine Schulden zu tilgen und ein Vermögen aufzubauen, das den aus der Gehaltsspreizung resultierenden individuellen Einkommensunterschieden gegenübersteht und Handlungsfähigkeit und Unabhängigkeit des Staates auf Dauer und generationenübergreifend in den Blick nimmt.

Holger Blisse ist Lehrbeauftragter und unter anderem auf kreditwirtschaftliche, genossenschaftliche und sozialpolitische Themen spezialisiert.