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Erdogans Pyrrhussieg

Von Rusen Timur Aksak

Gastkommentare
Rusen Timur Aksak ist ATV-Redakteur und hat unter anderem nach dem Putschversuch in der Türkei von dort berichtet.

Die tiefe Spaltung und Unsicherheit in der türkischen Bevölkerung wurden durch das Referendum nicht überwunden, sondern geradezu zementiert.


Der türkische Präsident hat die Volksabstimmung in der Türkei knapp gewonnen. Auch wenn die letzten Umfragen im Vorfeld ein knappes Ja für das Präsidialsystem vorhergesagt hatten, liegen die Nerven zwischen Bosporus und Euphrat blank. Die Opposition sieht massiven Wahlbetrug und will gar eine Neuwahl, während das Erdogan-Lager auf stur schaltet, aber sich insgeheim vor Massenprotesten fürchtet. Selbst wenn es zu keiner Neuwahl kommen sollte, ist der Start für Erdogans neues Präsidialsystem mehr als holprig. Wenn es gar zu landesweiten Massenprotesten kommen sollte, wäre nämlich auch die vom Erdogan-Lager versprochene Stabilität durch das neue System sogleich falsifiziert.

Erdogan dürfte sich in der Zeit zurückversetzt fühlen. Denn im Jahr 2014 wurde er mit einem ähnlich knappen Ergebnis (51,8 Prozent) zum Präsidenten gewählt. Auch damals gab es Proteste, auch damals führte die Opposition Wahlbetrug an und sah eine ungültige Wahl. Auch damals hat man jedwede Kritik in den Wind geschlagen.

Wie man am vergangenen Wahlsonntag gesehen hat, hat man damit allerdings nicht die tiefe Spaltung und Unsicherheit in der türkischen Bevölkerung überwinden können, sondern geradezu zementiert. Und damit auch die Ängste der Gegner vor den massiven Befugnissen Erdogans im neuen System. Denn Erdogans Pyrrhussieg verheißt wenig Gutes für das kommende Superwahljahr 2019, wenn sowohl Kommunalwahlen anstehen, als auch Parlament und Präsident gleichzeitig gewählt werden. Denn Erdogan hat am vergangenen Wahlsonntag nicht nur die drei großen Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir verloren, sondern sogar seinen Istanbuler Wohnbezirk Üsküdar.

Das lässt die Alarmglocken in der AKP-Zentrale laut läuten, denn Istanbul ist nicht nur der größte Wählerpool des Landes, sondern markiert auch den Beginn Erdogans politischer Karriere: 1994 wurde er zum Istanbuler Oberbürgermeister gewählt.

Die Stimmen der Auslandstürken haben diese Wahl zwar nicht entschieden, aber die Stimmen für Erdogans Präsidialsystem lagen doch weit über dem Ergebnis des Mutterlandes. Das sorgt nicht nur in Oppositionskreisen für Kritik, sondern auch in Europa. Doch auch, wenn die Wahlentscheidung vieler Auslandstürken, insbesondere der Austro-Türken, denkwürdig erscheinen mag, muss man aufpassen, dass man diese Wählergruppe durch überzogene Kritik oder gar Einschüchterung ("Ausreisewünsche" zählen da dazu) nicht noch stärker in die Arme Erdogans treibt.

Denn eines muss bei aller Kritik bedacht werden: Viele Austro-Türken fühlen sich als Bürger zweiter Klasse. Die damit einhergehende Unzufriedenheit zapft die AKP seit einigen Jahren erfolgreich an. Wer sich also über das Wahlverhalten der Austro-Türken ärgert, könnte auch durchaus versuchen, die Wurzel des Übels anzupacken und nicht nur Symptome zu bekämpfen, wenn wieder einmal eine Menschentraube mit türkischen Fahnen durch die Wiener Innenstadt zieht. (Denn eines ist klar, die nächste Türkei-Wahl kommt bestimmt. Es wäre allerdings bedauerlich, wenn wir dann zwar wieder verärgert sind ob des Wahlverhaltens, aber nichts getan haben, um das Wahlverhalten zugunsten anderer Ideen und Ansichten zu bearbeiten.)