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Primärversorgung für alle

Von Susanne Rabady

Gastkommentare
Susanne Rabady ist Landärztin und Präsidentin der Niederösterreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin.

Das neue Gesetz eröffnet nun - endlich! - einige Möglichkeiten zur Zusammenarbeit. Leider versäumt es aber eine historische Chance.


Koordinierte Patientenbetreuung ist einer ungesteuerten Versorgung überlegen, wie sich neuerlich in den Evaluierungen von Modellen aus Baden-Württemberg und Bayern zeigt. Koordinierte Betreuung bedeutet: Es gibt eine definierte Eintrittsstelle ins Gesundheitssystem, die erstversorgt und beurteilt, welche Weiterleitung an welche weitere Ebene (spezifische Therapieformen, Spezialist, Ambulanz, Spital. . .) in welchem Zeitraum sinnvoll ist, die diese koordiniert. Diese Stelle übernimmt die kontinuierliche Behandlung und Betreuung, auch für chronisch Kranke und multimorbide Patienten.

Koordinierte Betreuung bedeutet damit auch: Es gibt jemanden, der sich verantwortlich fühlt, der sich als Bezugspunkt im Gesundheitssystem anbietet - für den Patienten als ganze Person, solange und auf die Weise, wie dieser das möchte. Diese Koordinationsstelle ist in allen strukturierten Systemen der Welt das primärversorgende, das hausärztliche Team. Die Sinnhaftigkeit dieser Grundstruktur ist so oft wie seriös nachgewiesen.

Im österreichischen Gesundheitssystem übernehmen sämtliche Systemebenen primärversorgende Aufgaben, weil jeder Patient die Ebene für Eintritt und Behandlung nach Gutdünken wählen kann. Da Ressourcen jedoch nicht unendlich sein können, entsteht Knappheit, also Ungerechtigkeit. Denn ausschlaggebend für den Zugang werden individuelles Geschick, Zufall oder Finanzkraft (= Ausweg ins private System). Wenn niemand die Gesamtverantwortung übernimmt, entsteht Konzeptlosigkeit: ungezielter Eintritt in die spezialisierte Ebene, an die ungeeignete Stelle, zum falschen Zeitpunkt, zu viel Diagnostik oder Behandlung oder auch zu wenig, Überlastung von Personal und Infrastruktur.

Die Evaluierung der "hausarztzentrierten Versorgung" in Baden-Württemberg zeigte schon vor Jahren, dass koordinierte Betreuung, neben anderen Vorteilen, auch mehr Gerechtigkeit bietet: Mithilfe der Begleitfunktion des Hausarztes gleicht sich die Inanspruchnahme von Fachärzten zwischen den Bildungsgruppen, zwischen Frauen und Männern, zwischen Stadt- und Landbewohnern an.

Für Bayern konnte nun anhand von Daten von mehr als acht Millionen Versicherten die Kosteneffizienz einer gesteuerten Versorgung nachgewiesen werden. Mit zunehmendem Alter der Patienten wird diese Kostendifferenz noch deutlicher.

Das neue Primärversorgungsgesetz eröffnet nun - endlich! - einige Möglichkeiten zur Zusammenarbeit. Leider versäumt es die historische Chance, auch die strukturierte, koordinierte Inanspruchnahme anzubieten und zu fördern. Zudem ist es so komplex und so kostenintensiv, dass bis zum Jahr 2021 magere 75 Primärversorgungeinheiten entstehen sollen - die vielleicht 10 Prozent der Bevölkerung versorgen werden können. 90 Prozent der Bevölkerung sowie 90 Prozent der Hausärzte und Gesundheitsdiensteanbieter müssen sich so mühsam durchschlagen wie bisher. Oder noch viel mühsamer: Die Regelversorgung wird für Ärzte so unattraktiv, dass vielerorts die Praxen verwaisen. Ein paar Primärversorgungeinheiten werden das nicht aufhalten.