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Der Tod eines Mythos

Von Simon Rosner

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Warum die Deutschen drei Elfer vergeben haben und es irgendwie schade ist, dass es nicht mehr waren.


"Ich bin ein bisschen traurig. Ein Mythos ist gestorben, aber wir waren wenigstens dabei." Dieser Ausspruch stammt von Toni Innauer. Im Jänner 2002 war er Teamchef der östereichischen Skispringer und Augenzeuge des einzigartigen Erfolges von Sven Hannawald bei der Vierschanzentournee. Nie zuvor hatte es ein Skispringer geschafft, alle vier Bewerbe in einem Winter zu gewinnen.

Am Samstag ist in Bordeaux noch so ein Mythos des Sports für immer ausgelöscht worden: Deutschland kann gegen Italien einfach nicht gewinnen. Technisch gesehen stimmt das zwar weiterhin, denn nach 90 Minuten stand es 1:1, und erst das Elferschießen hat zugunsten der Deutschen entschieden. Aber Aufstieg ist Aufstieg, und der Jubel bei den einen und die Tränen der anderen machten recht deutlich, wer hier der Sieger war. Deutschland kann es also doch.

Sportmythen wie jenen wohnt eine Ambivalenz inne. Sportler jagen diesen Mythen nach, sie wollen das nie Erreichte erreichen, und diesen sisyphos’schen Kampf begleiten die Berichterstatter auch mit der einer guten Erzählung angemessenen Überhöhung. Andererseits geht im Erfolgsfall dann das Faszinosum verloren, die Geschichte als Fortsetzungsroman endet unweigerlich. Was eben auch schade ist.

Dass noch nie ein Golfer alle vier Masters-Turniere in einem Jahr und noch nie ein Radler Giro d’Italia, Tour de France und Vuelta hintereinander gewinnen konnte und auch noch nie der Champions-League-Sieger seinen Titel verteidigt hat, macht zweifellos eine gute Geschichte, auch wenn die mediale Begleitung oft den Eindruck erweckt, als wirkten da übersinnliche Kräfte. Natürlich ist es einfach sauschwer, vier Skispringen hintereinander zu gewinnen oder gegen Italien bei einem großen Fußball-Turnier.

Eine Wirkung haben diese Mythen aber sicherlich. Ein Golfer, der drei Masters-Turnier gewinnt und dann beim vierten kurz vor dem großen Triumph steht, vor dem noch nie Erreichten, wird vermutlich einen weitaus größeren Druck verspüren als bei irgendeinem anderen Turnier, obwohl der finale Putt nicht schwerer ist - wären da nicht gefährliche Gedanken, dass dieser Schlag einen nun zur Legende machen würde.

Auch Deutschland hat schon bessere Elferschießen bestritten als jenes gegen Italien. Viel bessere sogar. Bei allen Welt- und Europameisterschaften seit Erfindung des Elferschießens hatten nur zwei Deutsche ihre Versuche vergeben: Uli Hoeneß 1976 und Uli Stielike 1982. Seither vergab kein einziger, gegen Italien waren es dann gleich drei in einer Partie. Zufall? Oder doch auch die Angst, dass der Stein kurz vor dem Gipfel wieder nach unten rollen wird?

Die DFB-Elf stieg diesmal aber dennoch auf und beendete damit den Mythos, gegen Italien nicht gewinnen zu können. Natürlich wird beim nächsten Duell der beiden Fußballnationen wieder daran erinnert und vermutlich auch breitgetreten werden, dass dieses Spiel in der Statistik als ein 1:1 steht und daher nicht als Sieg Deutschland zu verstehen sei. Ja, eh. Aber alle wissen natürlich, dass das in Wirklichkeit nicht so ist und diese Erzählung reichlich konstruiert wäre. Am Samstag ist ein Mythos gestorben, aber wenigstens waren wir dabei.