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"Der Nato-Einsatz hat mein Leben gerettet"

Von Martyna Czarnowska aus Prishtina

Politik

Der Kosovo beging den 20. Jahrestag des Kriegsendes. Doch auf dem Weg Richtung EU hat er viele Hürden zu bewältigen.


Prishtina. Vielen Dank, merci, grazie, dziekuje - und ganz groß, in der Mitte: Thank you. Auf dem riesigen Banner auf dem Regierungsgebäude in Prishtina prangt die Botschaft gleich in mehreren Sprachen - in jenen der Nato-Soldaten von vor zwanzig Jahren. Am 9. Juni 1999 einigten sich Vertreter des damaligen Rest-Jugoslawiens und der Nato darauf, die jugoslawischen Soldaten und die serbische Polizei aus dem Kosovo abzuziehen, am 12. Juni rückte die internationale KFOR-Truppe ein.

Zwanzig Jahre später versammeln sich tausende Menschen auf dem zentralen Mutter-Teresa-Boulevard in der kosovarischen Hauptstadt, um den Feierlichkeiten zum Jahrestag des Kriegsendes beizuwohnen. Sie schwenken amerikanische, albanische, kroatische, deutsche Fähnchen. Sie drängen sich an den Absperrungen vor dem Podium, das in der Nähe des Denkmals des albanischen Kämpfers Skanderbeg aufgebaut ist. Als Madeleine Albright hinter das Pult tritt, brandet Applaus auf. Der nur noch übertroffen wird, als Bill Clinton zu seiner Rede ansetzt.

Albright war 1999 Außenministerin im Kabinett von US-Präsident Clinton. In Prishtina erzählt sie von einem Besuch in einem kosovarischen Flüchtlingslager vor zwanzig Jahren und von einem nächtlichen Anruf nach dem Beginn der Nato-Bombardements gegen die jugoslawischen Truppen. Am Telefon war Clinton. "Madeleine", erklärte er: "Die Flugzeuge sind losgeflogen. Wir tun das Richtige."

Am Nachmittag wurde im Zentrum Prishtinas eine Büste von Albright enthüllt. Clinton hat bereits seine Statue; eine Straße ist ebenfalls nach ihm benannt.

Nicht alle feiern

Dass die Nato die Kampfhandlungen, die tausende Tote und hunderttausende Vertriebene gefordert hatten, beendet hat, sorgt bei etlichen Kosovaren tatsächlich noch immer für Dankbarkeit. Amerikanische Flaggen an Gebäuden sind in Prishtina oft zu sehen. Politiker sind bei offiziellen Treffen mit ausländischen Gästen voll des Lobes für das Engagement der transatlantischen Militärallianz. "Der Nato-Einsatz hat mein Leben gerettet", sagt die Journalistin Jeta Xharra, die aus dem Krieg berichtet und ethnische Säuberungen gesehen hatte.

Doch nicht alle finden 20 Jahre später einen Grund zum Feiern. Während in Prishtina die Zeremonie vorbereitet wird, sitzt in der Gemeinde Gracanica, eine Viertelstunde mit dem Auto von der Hauptstadt entfernt, Amtsleiter Milos Dimitrijevic vor einer Gruppe österreichischer Journalisten und zeigt sich unbeeindruckt. "Für mich ist das ein Tag wie jeder andere", meint er. Während des Krieges war er Student, und auch wenn danach hunderttausende Serben geflohen sind, dachte er nicht ans Weggehen.

Gracanica ist nämlich eine serbische Enklave; von den mehr als 20.000 Einwohnern sind lediglich an die sechs Prozent albanisch. Im gesamten Kosovo machen Serben allerdings eine Minderheit aus: Unter den rund 1,9 Millionen Bürgern sind es derzeit etwas mehr als 100.000 Menschen. Die meisten von ihnen leben im Norden und Süden des Landes. Finanzielle Unterstützung gibt es aus Belgrad; das Bildungs- und das Gesundheitswesen sind nach dem serbischen System ausgerichtet.

Serbien hat die Unabhängigkeit, die seine ehemalige Provinz 2008 ausgerufen hat, bis heute nicht akzeptiert, die Beziehungen zwischen Belgrad und Prishtina haben sich immer noch nicht normalisiert. Genau dazu sollte aber der so genannte Dialog führen, den die zwei Nachbarländer seit Jahren unter EU-Vermittlung in Brüssel führen. Doch die Verhandlungen liegen auf Eis.

Ihre Wiederaufnahme ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Der Kosovo sorgte für zusätzlichen Unmut in Serbien, als er Ende des Vorjahres Importzölle auf Waren von dort einführte. Zuvor hatte Belgrad die Mitgliedschaft des Nachbarn in der internationalen Polizeiorganisation Interpol verhindert. Die Abgaben für die Ausfuhr sollen der serbischen Wirtschaft in wenigen Monaten 90 Millionen Euro an Einbußen beschert haben.

"Nun trägt auch Serbien die Kosten für Verzögerungen bei unseren Verhandlungen", erklärt der kosovarische Ministerpräsident Ramush Haradinaj im Gespräch mit Journalisten. "Es hat uns zwanzig Jahre lang isoliert, uns und unsere Produkte nicht anerkannt." Die Verhängung der Zölle sei der "letzte Ausweg zur Selbstverteidigung" gewesen.

Dass Prishtina die Strafmaßnahmen bald aufhebt, zeichnet sich derzeit nicht ab. "Wir sind daran interessiert, die Situation aufzulösen", betont Haradinaj zwar. Aber die Serben müssten auch etwas dafür tun - am besten den Kosovo als Staat anerkennen.

Das wiederum scheint in naher Zukunft unwahrscheinlich. Belgrad pocht zunächst einmal auf die Aufhebung der Zölle.

Mangel an Perspektiven

Naim Rashiti folgert: "Die politischen Eliten in Serbien und im Kosovo wollen den Dialog nicht." Beide Seiten fürchten nämlich die Kompromisse, die für eine Annäherung nötig wären, sagt der Leiter der Denkfabrik BPRG (Balkans Policy Research Group) der "Wiener Zeitung". Auch die internationale Gemeinschaft könnte bald die Geduld verlieren - dann könnte es Jahre dauern, bis wieder Gespräche aufgenommen werden.

"Die Zeit arbeitet nicht für den Kosovo", warnt Rashiti. Das Land stecke in der Bredouille: Die Staatenbildung gehe nur langsam voran, es gibt keine Aussicht auf ein Abkommen mit Serbien, die Annäherung an die EU stockt, Visafreiheit bei Reisen in die Union gibt es noch immer nicht, Menschen wollen mangels Perspektiven in ihrer Heimat weg von dort.

Der Kosovo ist ein junger Staat: Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung ist nicht älter als 35 Jahre. Doch die Arbeitslosenzahl liegt bei 30 Prozent, das Durchschnittsgehalt gerade einmal bei 500 Euro, die Auslandsinvestitionen gehen zurück. Dabei müssten jedes Jahr neue Jobs geschaffen werden, da 25.000 junge Menschen den Arbeitsmarkt betreten.

Das Wirtschaftswachstum beträgt zwar an die vier Prozent. "Aber das reicht nicht, um die ökonomischen Probleme zu lösen", stellt Isa Mustafa, Vorsitzender der Mitte-Rechts-Partei Demokratische Liga (LDK), fest. Die Wirtschaft müsste doppelt so stark wachsen. Dafür müsste die Korruption bekämpft, Unternehmertum gefördert, das Vertrauen der Investoren und der Bevölkerung in die staatlichen Strukturen gestärkt werden, zählt der Oppositionspolitiker auf, dessen Fraktion bis 2017 an der Regierung war. Das jetzige Kabinett macht der Ex-Premier sowohl für die steigende Arbeitslosigkeit als auch für eine Abkühlung in den Beziehungen mit der EU verantwortlich. Außerdem sei das von Haradinaj angeführte Bündnis aus mehreren Parteien, die aus der Kosovo-Befreiungsarmee UCK hervorgegangen oder Minderheitenlisten sind, handlungsunfähig. Denn die mitregierende Serbische Liste habe die Koalition verlassen, und deren Mehrheit im Parlament sei dahin.

Aufgeblasene Verwaltung

Mustafa plädiert für eine vorgezogene Wahl. Auch einen Misstrauensantrag gegen die Regierung schließt er nicht aus. Mit wem allerdings seine Partei im Falle eines Wahlsiegs koalieren würde, ist völlig offen. Und selbst nach einer Neuwahl ist unklar, wie viel sich an den politischen Strukturen ändern würde. Die Verwaltung ist aufgeblasen, es gibt fast zwei Dutzend Ministerien und beinahe vier Mal so viele Vizeminister. Von den untereinander teils tief zerstrittenen Parteien hängen etliche Jobs ab.

"Das Land wird angeführt von Politikern, die sich auf Klientelismus verlassen und die internationale Gemeinschaft glauben lassen wollen, dass sie die Probleme lösen werden. Aber sie sind nicht verlässlich", befindet die Investigativjournalistin und Aktivistin Xharra, die in Prishtina das Recherchenetzwerk BIRN leitet. Als eine der größten Gefahren für Gesellschaft und Demokratie sieht sie einen Mangel an Rechtsstaatlichkeit an. Es ist nur eine von mehreren, die der Kosovo selbst bekämpfen müsste.