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Frankreich im Ausstand

Von WZ-Korrespondentin Birgit Holzer

Politik

Generalstreik legte Frankreich lahm. Züge fuhren nicht, Flüge wurden gestrichen. In Paris waren 6000 Polizisten im Einsatz.


Paris ist ungewohnt still an diesem Donnerstagmorgen zur Hauptverkehrszeit. Auf dem sonst so geschäftigen Boulevard des Maréchaux am Stadtrand fahren kaum Busse und viele der für gewöhnlich raren Parkplätze bleiben frei. Nur wenige Autos sind unterwegs, dafür trotz der Kälte mehr Radfahrer und Nutzer von Elektrorollern als sonst; manche haben sogar ihre Rollerskates hervorgeholt, um voranzukommen.

Es herrscht Ausnahmezustand. Die Menschen haben sich auf diesen 5. Dezember vorbereitet. Sie stiegen aufs Rad oder blieben gleich ganz zuhause, um nicht irgendwo in der Stadt festzustecken. Seit Monaten hatten die französischen Gewerkschaften dieses Datum für einen branchenübergreifenden Generalstreik gegen die geplante Rentenreform der Regierung auserkoren.

Ticketverkauf gestoppt

Es wird wohl nicht bei einem Tag bleiben. Vielmehr handelte es sich am Donnerstag um den Auftakt einer längeren Phase des Widerstands. Viele Schulen im ganzen Land blieben geschlossen, da nur jeder zweite Lehrer zur Arbeit ging. Insgesamt streikte fast ein Drittel der Beamten. In Krankenhäusern herrschte lediglich eingeschränkter Dienst. Müll wurde nicht abgeholt. Sieben von acht französischen Raffinerien waren geschlossen, ebenso Sehenswürdigkeiten wie der Eiffelturm. Außerdem fielen hunderte Flüge aus, ebenso wie 90 Prozent der Schnellzüge TGV, 80 Prozent der Regionalbahnen und elf von 14 Pariser Metrolinien.

Die Mitarbeiter der Pariser Verkehrsbetriebe RATP stimmten für eine Verlängerung des Ausstands bis Montag. Die Staatsbahn SNCF hatte den Ticketverkauf von Donnerstag bis einschließlich Sonntag gestoppt.

Betroffen sind auch Verbindungen ins benachbarte Ausland: Aufgrund der unsicheren Lage entfallen Halte-Stationen oder es lassen sich keine Plätze reservieren. Für den heutigen Freitag werden wohl 20 Prozent der Flüge gestrichen. "Die Mobilisation ist sehr gut, man sieht, dass sich alle von dieser Reform betroffen fühlen", sagte Philippe Martinez, Generalsekretär der Gewerkschaft CGT, zufrieden. "Ich kann Ihnen verraten, dass der Streik heute Abend nicht endet."

Die Protestwelle startet, noch bevor die Regierung Details ihrer Reform nannte - diese hat sie für Mitte nächster Woche versprochen. Am kommenden Montag will der Spezialbeauftragte für die Umsetzung der Reform, Jean-Paul Delevoye, der Regierung eine Zusammenfassung der Verhandlungsgespräche mit den Sozialpartnern vorlegen. Die Franzosen gehen durchschnittlich mit 60,8 Jahren in den Ruhestand, was unterhalb des Durchschnitts der OECD-Länder liegt; zugleich gibt das Land mit 14 Prozent des Bruttoinlandsproduktes verhältnismäßig viel für die Pensionszahlungen aus. Die Rentenkasse hat derzeit ein Defizit in Höhe von 2,9 Milliarden Euro, welches die Regierung abbauen will.

"Es geht um unsere Zukunft"

Delevoye hat angekündigt, dass zwar das legale Renteneintrittsalter von 62 Jahren nicht angetastet wird, es könnte sich allerdings die Dauer der Beitragseinzahlungen für den Erhalt der Vollrente verlängern - was letztlich denselben Effekt hat, nämlich eine längere Arbeitszeit, um keine Abstriche zu haben.

Und das bringt die Menschen auf. So blieb es an diesem Ausnahme-Tag nicht überall in Paris und Frankreich still. Zigtausende Menschen fanden sich zu landesweit 245 Demonstrationen gegen das Reformprojekt der Regierung zusammen. In Paris startete am frühen Nachmittag ein Protestzug am Nordbahnhof. Julien Fernandes kam gemeinsam mit anderen Lehrern in einem Bus aus dem Großraum der Hauptstadt ins Zentrum. "Es geht hier wirklich um unsere Zukunft und auch um die Wertschätzung unserer Arbeit", sagte er. Vereinzelt kam es zu Ausschreitungen, unter anderem in Bordeaux, Nantes und Paris.

Vorsichtshalber hatte die Regierung im ganzen Land ein Großaufgebot an Sicherheitskräften eingesetzt, allein 6000 davon in der Hauptstadt. Mehrere Dutzend Menschen kamen vorübergehend in Haft. Trotz der angespannten Lage hieß es aus dem Élysée-Palast, Präsident Emmanuel Macron sei "ruhig und entschlossen". Er hatte bereits im Wahlkampf eine Reformierung des Rentensystems versprochen, das er als intransparent und ungerecht beschrieb: Derzeit besteht es aus 42 verschiedenen Einzelkassen für die unterschiedlichen Berufe. Mittels eines Punktesystems sollen künftig aus jedem eingezahlten Euro dieselben Ansprüche resultieren. Bei Frauen, die teilweise aufgrund der Geburt ihrer Kinder aussetzen mussten, soll diese Zeit künftig mit berücksichtigt werden.

Bewährungsprobe

Nachteile befürchten hingegen alle Selbständigen, aber gerade auch die Mitarbeiter der RATP und der Bahn, die bislang von Sonderregelungen profitieren und oft bereits mit Mitte 50 in den Ruhestand gehen können. Sie verfügen allerdings über besonders große Blockade-Macht - deshalb bemüht sich die Regierung um vorsichtiges Vorgehen, ohne von ihrem Ziel abrücken zu wollen.

Sollte Macron sein Projekt nicht wie geplant durchziehen, würde das einen massiven Gesichtsverlust für ihn bedeuten. "Laut Umfragen wird er in erster Linie als Reformer wahrgenommen", sagt der Meinungsforscher Frédéric Dabi. "Durchsetzungskraft und Wandel sind die Stützen seines Images, mit der Idee, dass er Probleme regelt, die seit 30 Jahren ungelöst sind." Wird ihm das bei der Reform des Pensionssystems gelingen? Sie wird wohl zu Macrons bislang größter Bewährungsprobe.