Zum Hauptinhalt springen

Leben im Ausnahmezustand in Mailand

Von Thesy Kness-Bastaroli aus Mailand

Politik

Seit knapp einer Woche gilt in der norditalienischen Wirtschaftsmetropole nun schon die Anordnung, zu Hause zu bleiben. Für die knapp 1,4 Millionen Menschen in der Stadt hat sich damit so gut wie alles geändert.


Freitag, sechster Tag Ausnahmezustand in Italiens Millionen-Metropole Mailand. In den vergangenen Tagen hat sich in Mailand viel, wenn nicht alles geändert. Die Anweisungen der Regierung, in den eigenen vier Wänden zu bleiben, massive TV-Werbung - "Io resto a casa", auf Deutsch "Ich bleibe zu Hause" - und Millionen von Flugblättern zeigen Erfolg. Selbst bei der Jugend, die es inzwischen "cool" findet, mit Freunden nur mehr digital zu verkehren. Die Bar an der Ecke zum Corso Vercelli hat seit wenigen Tagen ganz geschlossen. Wie alle Kaffeehäuser und Restaurants in Mailand, in ganz Italien. Es gibt dafür keine Alternativen. Einzig der Zeitungshändler gegenüber der Frühstücks-Bar hat geöffnet.

Kioskbesitzer Davide hat seit Jahren kein so gutes Geschäft gemacht wie in diesen Tagen, gibt er zu. Darüber schämt er sich ein wenig, denn er will keinen Profit aus der Krise schlagen. Aber die Regierung hat beschlossen, dass Zeitungskioske und Apotheken sowie Supermärkte und Lebensmittelgeschäfte offen bleiben dürfen und sogar müssen.

"Bereits ganz früh am Morgen", so Davide, "schlüpfen die "anziani", die Mailänder in der Altersgruppe von über 65 Jahren, aus ihren eigenen vier Wänden und kaufen Zeitungen. Gleich mehrere. Tagsüber trauen sie sich kaum auf die Straße. Denn das jüngste Regierungsdekret besagt, dass die Wohnung nur in Ausnahmefällen verlassen werden darf oder soll. Etwa bei Einkäufen von Lebensmitteln, von Medikamenten.

Mütter hamstern Puzzles

Vor allem aber kommen gestresste Mütter zum Zeitungsstand, weiß Davide zu berichten. Sie sind nicht nur an der Lektüre für ihre, sich langweilenden Kinder zu Hause interessiert. Sie kaufen auch Spiele, Puzzles, CD. Wahre Hamsterkäufe. Denn sämtliche Schulen Italiens sind vorerst bis 4. April geschlossen. "Wir müssen da durch", sagt Silvia Bonora, Mutter von zwei halbwüchsigen Buben. Sie selbst macht Home Office. Die Kinder sind 24 Stunden am Tag zu Hause, Sport im Freien ist unmöglich, da sämtliche Fußball-, Tennis- und andere Plätze geschlossen sind.

"Von zu Hause aus zu arbeiten und gleichzeitig die Kinder zu beschäftigen, ist kaum umzusetzen", meint sie. Zwar habe die Regierung "Babysitter-Zulagen" für Kinder bis 12 Jahren versprochen und will auch zwei Wochen Urlaubsgeld zahlen. Doch niemand weiß, wann. Außerdem sei es schwierig, verlässliches Personal zu finden.

Doch nicht nur für berufstätige Eltern hat sich so gut wie alles geändert. Auch bei der Jugend selbst hat "tutti a casa" eine massive Verhaltens-Trendwende bewirkt. Das Treffen mit Freunden findet nun so gut wie ausschließlich "digital" statt. Diskotheken und Fußballspiele gehören der Vergangenheit an, die im Fernsehen gezeigten Serien sind plötzlich wieder "in".

"Wir müssen da durch", sagt auch der Besitzer der Apotheke im Corso Vercelli. Ebenso wie beim naheliegenden Supermarkt bilden sich hier kleine Warteschlangen vor der Türe. Denn es dürfen maximal zwei Kunden gleichzeitig eintreten. Und der Abstand von einem Meter zum Apotheker oder zu anderen Kunden muss gewahrt werden. Das wird streng kontrolliert.

Dieser Ausnahmezustand soll, so ist vorerst vorgesehen, bis 24. März andauern. Doch an dieses Datum glauben weder die Fachärzte noch die Geschäftsleute. Angeblich soll die Regierung auch an einem neuen Dekret arbeiten, um nicht nur den Handel, sondern auch die Produktion massiv herunterzufahren. Damit würde Italien völlig zum Stillstand kommen.

Denn noch sind die Zahlen der vom Coronavirus Angesteckten weiterhin im Steigen: in Mailand, in der Region Lombardei und auch in ganz Italien. Am Donnerstag zählte die Gesundheitsbehörde 12.839 "positive" Fälle, 2249 mehr als am Vortag. Das war die höchste Zuwachsrate überhaupt. Rund drei Viertel aller positiv Getesteten befinden sind in der Lombardei. Auch die meisten der Todesfälle, landesweit erstmals über 1000, konzentrieren sich auf Mailand und Umgebung.

Verhallte Warnungen

Regierungschef Giuseppe Conte hat seine Mitbürger mehrmals angefleht, zu Hause zu bleiben. Zunächst wurde seine Mahnung nicht ganz ernst genommen. Aber nachdem die Anzahl der Infizierten und Toten kontinuierlich steigt, ist das Bewusstsein vom nationalen Notstand bei der Bevölkerung, insbesondere in Mailand, angekommen. Die sonst so geschäftige Stadt scheint ausgestorben. Im Zentrum, im Corso Magenta, am Domplatz und in der famosen "Galleria", die vom Dom zum Opernhaus La Scala führt, kann man die Passanten an zwei Händen abzählen. Die "Scala" hat schon vor knapp zwei Wochen ihre Vorstellungen abgesagt und inzwischen auch den Kartenverkauf eingestellt. Über Italiens Wirtschaftsmetropole liegt derzeit eine Ruhe, die sonst nur zu Ferragosto, Mitte August, herrscht. Dann sind die Mailänder in den Ferien, viele Geschäfte und Restaurants bleiben geschlossen und nur wenige Touristen irren durch die verlassenen Straßen. Im Moment gibt es nicht einmal Touristen, nachdem ein Großteil der Flug- und Bahnverbindungen aus dem Ausland nach Mailand blockiert sind.

Die Stadt macht derzeit zwar einen aufgeräumten, sauberen Eindruck, da die Straßen dauernd desinfiziert werden. Abends wird es aber nahezu gespenstig. Auf dem Corso Vercelli sind kaum Autos, nur Kranken- und Polizeiwagen zu sehen. Und zu hören.