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Der Selenskyj-Effekt ist verpufft

Von Gerhard Lechner

Politik

Dem ukrainischen Präsidenten macht derzeit nicht nur das Coronavirus zu schaffen. Auch Wahlniederlagen und ein Streit um ein umstrittenes Urteil des Verfassungsgerichts, das Antikorruptionsgesetze aufhob, trüben die Stimmung.


Es sind keine leichten Zeiten für Wolodymyr Selenskyj. Der junge ukrainische Komiker, der vor eineinhalb Jahren die Präsidentenwahl in seinem Land mit 73 Prozent gewann, steckt in Schwierigkeiten. Bei den Kommunalwahlen Ende Oktober fuhr seine Partei "Diener des Volkes", die im vergangenen Jahr bei der Parlamentswahl noch mit absoluter Mehrheit triumphierte, ein mäßiges Ergebnis ein. In keiner einzigen der großen ukrainischen Städte kamen die Kandidaten der Präsidentenpartei in die Stichwahl um den Bürgermeisterposten.

Zwar ist es bei Kommunalwahlen generell schwieriger als landesweit, die etablierten Platzhirsche zu verdrängen. Ein solch schwaches Ergebnis kann aber nicht als Rückenwind für die regierende Präsidentenpartei gewertet werden. Dazu hob das ukrainische Verfassungsgericht auch noch einen Eckstein der Antikorruptionsreformen nach dem Maidan auf. Selenskyj, der mit dem Versprechen angetreten war, die Korruption zu bekämpfen, nahm das als Angriff auf sich und seine Präsidentschaft wahr. Und da, wenn Glück fehlt, meist noch Pech dazukommt, erkrankte der ukrainische Präsident auch noch am Coronavirus und wurde vorige Woche ins Spital eingeliefert.

 

"Verfassungsputsch"

Als sonderlich schlimm erwies sich die Erkrankung beim vitalen 42-Jährigen zwar bis jetzt nicht. Dafür machen die anderen Probleme dem Polit-Neuling zu schaffen. Besonders mit dem Verfassungsgericht lieferte sich Selenskyj eine Schlacht, die er bis jetzt klar verloren hat.

Die Richter hatten - wegen Verfahrensfehlern und aus Datenschutzgründen - eine Regelung für ungültig erklärt, wonach Politiker und ranghohe Beamte jedes Jahr ihre Vermögenswerte in einer Steuererklärung offenlegen müssen. Auch ein Gesetz zur strafrechtlichen Verfolgung von Steuerhinterziehung bei Beamten wurde aufgehoben. Das Urteil sorgte im ganzen Land für Empörung. Selenskyj bezeichnete es als "inakzeptabel" und als "Gefahr für die nationale Sicherheit". Er kündigte an, die inkriminierten Gesetze erneut beschließen und das Verfassungsgericht gleich ganz auflösen zu wollen - mittels eines Gesetzesentwurfs zur "Wiederherstellung des öffentlichen Vertrauens in die Verfassungsjustiz", den er ans ukrainische Parlament zur Beschlussfassung weiterleitete.

Dort war man jedoch wenig begeistert. Denn Selenskyjs Entwurf ist hoch umstritten. Beobachter wiesen darauf hin, dass sowohl Präsident als auch Parlament nicht befugt seien, das Verfassungsgericht aufzulösen. Dessen Vorsitzender sprach gar von einem versuchten "Verfassungsputsch" des Staatschefs.

Angst vor juristischen Folgen

Und die Abgeordneten zeigten sich nicht angetan von der Idee, sich mit der Beschlussfassung eines solchen Gesetzes möglicherweise strafbar zu machen - noch dazu, wo Selenskyj selbst auf den Versuch verzichtete, das Verfassungsgericht per Erlass aufzulösen, sondern die Verantwortung für die Entscheidung an die Parlamentarier weitergab. Alle Fraktionen, auch "Diener des Volkes", verweigerten sich. Ohnehin stellt sich die Frage, inwieweit Selenskyj noch auf seine Gruppierung zählen kann. De facto ist das Kabinett von Premierminister Denys Schmyhal bereits eine Minderheitsregierung. Rund die Hälfte der vor einem Jahr schnell zusammengesuchten Abgeordneten von "Diener des Volkes" steht nicht mehr loyal zum Präsidenten. Mittels situativer Koalitionen mit jenen Parteien, die ebenfalls zu den Verlierern der Kommunalwahlen zählen, könnte Selenskyj das gerade noch vermeiden, was er jetzt fürchten muss: eine Neuwahl des Parlaments, bei der "Diener des Volkes" kaum zu den Gewinnern zählen würde.

 

Russlandfreundliche Kräfte wieder da

Von einem solchen Votum würden andere profitieren: erst einmal Ex-Präsident Petro Poroschenko, dessen Partei "Europäische Solidarität" sich bei den Kommunalwahlen als führende proeuropäisch-nationalistische Kraft profilieren konnte. Sie verdrängte in der Westukraine die dort gut aufgestellten nationalistischen Gruppierungen. Umgekehrt punktete im Süden und Osten eine ebenso altbekannte Kraft: Die "Oppositionsplattform", die de facto die Nachfolge der "Partei der Regionen" von Ex-Präsident Wiktor Janukowitsch angetreten hat und die als Interessensvertreterin der russischsprachigen Süd- und Ostukrainer auch denselben Kurs verfolgt: gegen Kiews forcierte Ukrainisierungspolitik, die auch unter Selenskyj weiterging (wenn auch gebremst), und für Kompromisse mit Russland. Ihre Botschaft lautet: Selenskyj hat euch den Frieden versprochen - wir sind in der Lage, ihn zu bringen, da wir die Kontakte nach Moskau haben. Und da die Kriegsmüdigkeit besonders in den russischsprachigen Gegenden, die nicht so weit von der Front entfernt sind, groß ist, nimmt die Oppositionsplattform - wieder - ihren Platz als Vertreterin der Süd- und Ostukrainer ein.

Für die Westukrainer hingegen ist Einknicken vor Russland Landesverrat. In Internetforen wird Selenskyj ob seiner Muttersprache als "Russenkomiker" denunziert. Seine Versuche, den Russen im Donbass entgegenzukommen, werden als Kapitulation vor Moskau gewertet.

Identitätspolitik hat Grenzen

Noch ist es allerdings nicht so, dass ein Rückfall der Ukraine ins alte West-Ost-Muster in Stein gemeißelt wäre. Immer noch ist das Rating des Präsidenten mit rund 31 Prozent für ukrainische Verhältnisse relativ gut - und jedenfalls deutlich besser als das seines Vorgängers Poroschenko. "Diener des Volkes" musste sich allerdings in der jüngsten Umfrage mit Platz drei begnügen - knapp hinter Poroschenkos Partei und dem führenden Oppositionsblock.

Die Werte des Präsidenten sind dennoch passabel. Warum? "Selenskyj war unter anderem deswegen so erfolgreich, weil er das Gefühl vermittelte, menschlich vernünftig zu sein und das Land vereinen zu wollen", kommentiert der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy auf Facebook. Das könnten Nationalisten und Prorussen aufgrund ihrer Begrenzungen nie erreichen. "Mit Positionen der ,Europäischen Solidarität‘ oder der ,Oppositionsplattform‘ ist man zwar vorne dabei. Die Wahlen gewinnt man aber nicht."