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Schweden: Von der Idylle zum Kriminalitäts-Hotspot

Von WZ-Korrespondent André Anwar

Politik

In Schweden werden pro Kopf die meisten Morde durch Schusswaffen in Europa verübt. Vor allem Bandenkriege um den Drogenmarkt sind außer Kontrolle geraten.


Es war ein sonniger Vormittag in Malmö. Die Straße belebt. Ein Mann näherte sich der jungen Frau. Direkt vor ihr richtete er eine Handfeuerwaffe auf sie und drückte mehrmals ab. Auch ihren Kopf traf eine Kugel. Dann verschwand er. Die Passantin Marylin Petterson versuchte noch, der auf den Boden zusammengesunkenen Frau mit einer Herzdruckmassage zu helfen.

"Es war wie eine Hinrichtung. Alles war voll mit Blut. Sie hielt ihr Baby in einem Arm. Handy, Schlüssel und Geldbörse im anderen", erinnerte sich eine Augenzeugin. "Der Vater saß zusammengesunken am Hauseingang und weinte." Im Krankenhaus starb die junge Ärztin und Mutter dann. Das zwei Monate alte Kind und der einst kriminelle Vater, an dem man sich angeblich rächen wollte, blieben unversehrt.

Rechtspopulisten machen Einwanderung verantwortlich

Dies war einer der grausamsten Schusswaffenmorde, der Schweden in den vergangenen Jahren erschüttert hat. Doch die Liste ist lang. So sehr, dass das einst - auch dank sozialer Ausgewogenheit - friedliche Wohlfahrtsland mit sehr niedriger Kriminalitätsrate inzwischen die meisten Schusswaffenmorde in Europa zählt. Dies ergibt ein Bericht des staatlichen Kriminalitätsvorbeugungsrates (Bra). 22 europäische Länder im Zeitraum 2000 bis 2019 wurden verglichen. "In den vergangenen 20 Jahren hat sich Schweden vom Schlusslicht zur Spitze bei Schusswaffenmorden bewegt", so Klara Hradilova-Selin von Bra. 42 Menschen starben im zehn Millionen Einwohner zählenden Land im Jahr 2019 aufgrund von Schusswaffengebrauch. Auch 2020 sind mehr als 40 Personen ermordet worden.

Bei acht von zehn Schießereien mit Todesopfern waren Kriminelle betroffen. Doch auch wurde eine zwölfährige Stockholmerin aus einem fahrenden Auto heraus tödlich getroffen. Die Schützen hatten eigentlich auf zwei Kriminelle gezielt, die Schutzwesten unter ihrer Kleidung trugen.

Die Forscher von Bra vermuten unter anderem Kämpfe um Reviere beim Drogenhandel und zwischen rivalisierenden Banden. "Warum Waffenmorde gerade in Schweden so angestiegen sind, können wir aber nicht definitiv erklären", so Hradilova-Selin im öffentlich-rechtlichen Fernsehen SVT. Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 sollen die vielen Schießereien damit zusammenhängen, dass es viele kleine Banden mit noch sehr jungen Hitzköpfen und ohne klare Führungsstrukturen gibt.

Der Chef der rechtspopulistischen Schwedendemokraten, Jimmie Akesson, macht die anderen Parteien und die Einwanderung von Personen außerhalb Europas für die Zustände verantwortlich. Diese seien unmoralischer und rücksichtsloser als ethnische Schweden, sagt er in der Zeitung "Aftonbladet". Rund 25 Prozent der schwedischen Bevölkerung sind Einwanderer oder Kinder von Einwanderpaaren. 2000 waren es 15 Prozent. Die rot-grüne Regierung macht vor allem Armut, fehlende Integration und Perspektivlosigkeit in Einwanderervierteln für die Bereitschaft junger Männer zum Eintritt in Banden verantwortlich. Die Ethnie habe damit nichts zu tun.

Die Regierung will den durch massive Kürzungen eingebrochenen Wohlfahrtsstaat sanieren, das Sozialwesen und die Schulen in Problemvierteln stärken. Denn viele junge Männer und inzwischen auch Frauen strömen in die kriminelle Unterwelt und erfüllen Mutproben in Form von schweren Verbrechen. Zudem setzt Innenminister Mikael Damberg auf mehr Polizisten und schärfere Strafen. Derzeit säßen 1.000 Kriminelle mehr im Gefängnis als im Vorjahr. Doch gibt der Sozialdemokrat zu: "In gewissen Teilen Schwedens war der Staat nicht anwesend, die Polizei zu schwach und Kriminelle wurden nicht behelligt."

Besonderes Aufsehen erregten im vergangenen Herbst rivalisierende Banden in den Vororten von Göteborg und Stockholm. Sie lieferten sich mitten am Tag Schießereien auf offener Straße und richteten sogar Straßensperren ein. Autofahrer wurden in Göteborg angehalten und überprüft, bevor sie weiterfahren durften. Die kommunalen Angestellten für Altenpflege, Sozialdienst und andere Bereiche wurden dann bei Bedarf von einem Wachdienst von ihrem Zuhause zur Arbeit und zurück eskortiert, berichtete die Zeitung "Arbetet". Auch Ausgangsverbote wurden laut TV4 im vergangenen Sommer im Stockholmer Vorort Tensta verhängt.

Gewalt gegen Frauen nimmt ebenfalls zu

Um Bandenkriminalität mehr entgegenzusetzen, wird in Schweden auch debattiert, ob verurteilte Personen mit Bandenzugehörigkeit doppelt so hohe Strafen erhalten sollen wie Einzeltäter. Das ist bereits im benachbarten Dänemark der Fall. Auch wird diskutiert, inwieweit das bisher geringere Strafausmaß für Personen unter 21 Jahren abgeschafft werden soll. Banden setzen deshalb bevorzugt junge Mitglieder für Morde ein. Zudem erwägt die Regierung, eine Kronzeugenregelung einzuführen.

Immer häufiger kommt es in Schweden auch zu Frauenmorden - meist durch den Partner. Innerhalb von drei Wochen wurden fünf Frauen umgebracht. Politiker versprechen mehr Hilfe für Frauenhäuser und andere Einrichtungen, ähnlich der Debatte in Österreich. Hier zeigt sich, dass trotz Schwedens erstem Platz im EU-Gleichstellungsindex (83 Punkte, Österreich liegt bei 66,5 Punkten, der EU-Schnitt bei 67,9) Gewalt an Frauen derzeit fast zur Tageordnung zählt.