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Vom Glück, noch am Leben zu sein

Von Thomas Seifert aus Saporischschja

Politik
Der ukrainische Soldat Maxim kam vor kurzem aus russischer Kriegsgefangenschaft frei. Er wurde zu Beginn des Krieges verwundet.
© Thomas Seifert

Soldat Maxim hat ein hartes Gefecht überlebt, geriet in Kriegsgefangenschaft und kann bald seine Familie wiedersehen.


Maxim ist glücklich, dass er noch am Leben ist. Er ist Soldat der ukrainischen Armee, seit über 15 Jahren dient er seinem Land bereits in Uniform. Nun liegt Maxim in einem schlicht eingerichteten Krankenzimmer im ersten Stock der Abteilung für Allgemeine Chirurgie des Krankenhauses Nummer 9 der Stadt Saporischschja. Von dort ist es nicht weit zur Front, seit die Truppen der russischen Armee von der Krim Richtung Norden vorgestoßen sind. 50 Kilometer Luftlinie sind es von Krankenhaus zum Kernkraftwerk Saporischschja, das die russische Armee eingenommen hat und um dessen Sicherheit man bei der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien besorgt ist.

Doch Maxim wurde nicht in den Kämpfen, die überall südlich von Saporischschja toben, verwundet, sondern relativ zu Beginn der russischen Invasion ganz im Norden des Landes, unweit der Grenze zu Weißrussland.

Genauer in einem Ort namens Lukaschiwka, um den am 9. März heftig gerungen wurde. Maxim kämpfte mit der 58. Mechanisierten Infantriebrigade, noch vor dem Morgengrauen starteten die russischen Truppen einen Vorstoß auf das Dorf. "Unsere Aufklärer sprachen von 12 Panzern und 14 Schützenpanzern, die auf unsere Positionen zurollen", sagt Maxim. Sie hätten kaum Waffen gehabt, mit denen sie etwas gegen die Panzer ausrichten hätten können. Die Erinnerung an den genauen Verlauf der Kämpfe verbirgt sich "wie hinter einer Nebelwand", Maxim kann bestenfalls Fragmente zusammensetzen. "Viele meiner Kameraden sind gefallen, was soll ich sagen", erzählt Maxim. Er erinnert sich daran, dass er in einem Bauernhof war, die Russen hätten die Soldaten entdeckt und das Feuer eröffnet. "Sie haben mit dem Panzer direkt ins Gebäude geschossen", sagt Maxim und erzählt davon, dass er am linken Bein verwundet wurde, dann am rechten Bein und am rechten Arm.

Maxim kann sich noch daran erinnern, dass es eine Explosion gab, später haben ihm seine Kameraden erzählt, dass sie ihn buchstäblich aus den Trümmern des Gebäudes bergen und in ein anderes Gebäude schleppen mussten. "Hätten sie mich in dem zerstörten Gebäude liegen lassen, dann wäre ich nicht mehr am Leben", sagt Maxim.

Als die russischen Truppen immer näher gerückt sind, hat Maxim seinen Unterschlupf erneut gewechselt, er versteckte sich in einem anderen Gebäude, von dem er hoffte, dass die russischen Soldaten dort nicht nachsehen würden. Aber die Soldaten begannen bald, das Gehöft systematisch zu plündern, und haben in allen Gebäuden nach mehr oder minder brauchbaren Dingen Nachschau gehalten. "Dabei haben sie mich entdeckt und mich gefangen genommen", erzählt der ukrainische Soldat. Kurz nach seiner Gefangennahme wurde er halbwegs menschlich behandelt, berichtet Maxim, die Soldaten haben ihm Wasser und auch etwas zu essen gegeben. Auch seine Wunden seien versorgt worden.

Doch dann wurde Maxim mit einer Reihe von weiteren Kriegsgefangenen weit Richtung Osten - nach Kursk in Russland - verlegt und dort sei die Behandlung deutlich schlechter gewesen. "Ich hatte eine schwere Infektion am rechten Bein, doch die russischen Soldaten haben sich nur über mich lustig gemacht." Einmal habe einer ein Messer direkt in die Wunde gehalten, nur um ihm Schmerz zuzufügen. Ein anderes mal hätten sie ihn bedrängt, er solle sich doch ihnen anschließen. Maxims Antwort: "Ihr seid in mein Land gekommen, ich habe gekämpft, um die Ukraine zu verteidigen, und da fragt ihr mich, ob ich mich euch anschließen will? Was macht ihr überhaupt in der Ukraine, warum zerstört ihr unser Land, tötet unsere Frauen und Kinder?"

Was haben die russischen Soldaten darauf geantwortet? "Sie haben gesagt, wir seien nichts weiter als die Marionetten von Amerika, von Deutschland, von den Westeuropäern. Sie haben gesagt, wir würden alle vom amerikanischen Präsidenten Joe Biden kommandiert und die meisten von uns seien sowieso Nazis."

Maxim macht eine auslandende Handbewegung, blickt in eine imaginäre Runde und wiederholt: "Alles Nazis. Für die Russen sind wir alle Nazis, weil wir nicht aufgeben wollen, ihnen hat man erzählt, dass wir Ukrainer die russischen Truppen sehnsüchtigst mit Blumen erwarten würden." Statt Blumen hätten die Invasoren Projektile und Granaten bekommen, sagt Maxim.

Nach eineinhalb Monaten in russischer Kriegsgefangenschaft kam Maxim im Rahmen eines Gefangenenaustauschs frei.

Er kann es kaum mehr erwarten, bis er halbwegs transportfähig ist und nach Poltawa kann, dorthin, wo sein Zuhause ist. Seine Frau Tatjana ist ebenfalls bei der Armee, sie dient sogar in derselben Einheit wie Maxim. Was war das Erste, was er nach seiner Freilassung gemacht hat? "Ich habe meine Familie angerufen, um ihnen zu sagen, dass ich okay bin. Meine Tochter Sophia, die gerade zehn Jahre alt geworden ist, hat zu mir gesagt: ‚Papa, sag mal, hast du jetzt genug Krieg gehabt? Komm bald nach Hause.‘ Ich habe zu ihr gesagt: ‚Erinnerst du dich noch, was ich versprochen habe? Ich habe dir versprochen, dass ich wieder zurückkomme. Siehst du, ich habe mein Versprechen gehalten.‘ Was soll ich sagen: Genau dieses Versprechen haben viele meiner Kameraden ihren Kindern, ihren Familien auch gegeben und können ihr Versprechen nun nicht halten."

Manches mal frage er sich, warum er es geschafft habe und die anderen nicht. Er kennt das, das Überlebensschuld-Syndrom. Doch psychische Betreuung hat Maxim bisher nicht erhalten, "zuerst müssen einmal die physischen Wunden heilen, um die Seele kümmere ich mich später".

Der Arzt imKrankenhaus Nummer 9

Pavlo Juri Alexandrowitsch, ist Trauma-Arzt im Krankenhaus Nummer 9. Sein Job ist es, wie er selbst sagt, "die Menschen wieder zusammenzuflicken". Alexandrowitsch hat den trockenen und morbiden Humor eines Trauma-Chirurgen, er witzelt, dass er vielleicht doch lieber Schneider werden hätte sollen: "Dieselbe Arbeit mit Nadel und Faden, geregelte Arbeitszeiten und weniger Stress. Scherz! Ich liebe meine Arbeit", sagt er und verzieht dabei keine Miene.

Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gebe es eine höhere Zahl von Patientinnen und Patienten und die Ärztinnen und Ärzte, die Pflegerinnen und Pfleger sind regelmäßig mit Schuss- und Schrapnellverletzungen konfrontiert. Erst vor einigen Wochen sei ein ganzer Konvoi aus dem im März und April heftig umkämpften Mariupol in Saporischschja eingetroffen, die Evakuierten seien zuerst im Spital in Saporischschja versorgt worden, bevor sie dann weiter Richtung Kiew oder noch weiter nach Westen geschickt worden seien.

"Seit dem 24. Februar ist unser Leben im Spital völlig auf den Kopf gestellt." Immerhin, sagt Alexandrowitsch, hier im Spital sei er am richtigen Platz, hier könne er zumindest helfen.

Mitarbeit: Elena Kaptiukh