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Westeuropa versteckt sich hinterm Westbalkan

Von Martyna Czarnowska

Politik
Eine Reise in die Ukraine scheute der deutsche Kanzler Olaf Scholz lange. Am Wochenende war er in Südosteuropa unterwegs.
© reuters / Spasiyana Sergieva

In der Debatte um einen EU-Beitritt der Ukraine verweisen Deutschland und Österreich auf die Kandidaten in Südosteuropa.


Den Versprechen Taten folgen lassen. Die EU-Beitrittsperspektive stärken. Rasch Gespräche über eine Mitgliedschaft in der Union starten. Solche Forderungen europäischer Politiker hört die Ukraine gerne. Genauer: würde sie gerne hören. Denn es ging nicht um sie, als in den vergangenen Tagen das Thema EU-Erweiterung wieder in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit rückte. Als der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz am Wochenende einen neuen Anlauf für die Aufnahme neuer Mitglieder forderte, war er nämlich in Südosteuropa unterwegs - und sicherte Beitrittskandidaten wie Nordmazedonien seine Unterstützung zu.

Bei der Ukraine hingegen agiert er weit vorsichtiger und warnt vor einem Eilverfahren. Wie sein österreichischer Amtskollege Karl Nehammer verbindet Kanzler Scholz das mit dem Westbalkan: Es wäre unfair, der Ukraine einen leichteren Weg in die EU zu öffnen als anderen Staaten, die sich seit Jahren um einen EU-Beitritt mühen, lautet das Argument in Wien und Berlin.

Es wird sich weisen, ob Scholz eine ähnliche Botschaft in Kiew verbreitet. Die Medienspekulationen über eine bevorstehende Reise des deutschen Kanzlers, möglicherweise mit dem italienischen Premier Mario Draghi und dem französischen Präsidenten, Emmanuel Macron, mehren sich. Alle drei waren seit Beginn des Kriegs in der Ukraine - im Gegensatz zu etlichen Amtskollegen - noch nicht dort.

Bewerbung auf dem Prüfstand

Trotz Bedenken einiger Mitglieder haben die EU-Staaten die EU-Kommission damit beauftragt, eine Bewertung zu einer möglichen Kandidatur der Ukraine abzugeben. Die Empfehlung soll bis Ende der Woche vorgelegt werden, und bei einem EU-Gipfel kommende Woche könnten die Staats- und Regierungschefs darüber beraten.

Ein mühsames Tauziehen ist bei der Zusammenkunft programmiert. Denn mit ihrer Skepsis stehen Deutschland und Österreich keineswegs allein da. Die Niederlande und Dänemark etwa zögern ebenfalls. Und Frankreich wünscht sich ohnehin eine Vertiefung der EU statt einer Erweiterung.

Dem gegenüber stehen osteuropäische Mitglieder wie Polen und die baltischen Staaten. Sie drängen bereits seit Jahren sowohl auf eine klare Nato- als auch eine EU-Perspektive für die Ukraine - und damit auf etwas, was etliche westeuropäische Regierungen lange gescheut haben: ein Signal an Russland, dass der Kreml nicht über die Zukunft der Ukraine zu bestimmen habe.

Diese Differenzen sind Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wohl bewusst. Sie musste sie auch bei ihrem Besuch in Kiew am Wochenende berücksichtigen. Daher lobte von der Leyen zwar die Ukraine für deren Fortschritte der vergangenen Jahre, erklärte aber gleichzeitig, dass die Aufnahme in die EU an Voraussetzungen geknüpft sei.

Präsident Wolodymyr Selenskyj wiederum wird nicht müde zu betonen, dass ein Kandidatenstatus nicht nur sein Land, sondern auch die EU selbst stärken werde. Den Antrag darauf hatte Kiew kurz nach Beginn der russischen Invasion Ende Februar gestellt. Mittlerweile haben auch Georgien und die Republik Moldau solche Bewerbungen abgegeben.

Dabei ist ein Kandidatenstatus kein Garant für eine schnelle EU-Anbindung. Nordmazedonien hat ihn vor 17 Jahren, die Türkei vor 23 Jahren erhalten. Doch die Verhandlungen mit Ankara sind zum Stillstand gekommen, und Skopje hat noch gar kein Datum für den Beginn der Gespräche mit Brüssel. Dennoch hat es politisches Gewicht, wenn ein Land als EU-Anwärter anerkannt ist - und das wäre auch bei der Ukraine der Fall.

"Schnellstart machbar"

Während Befürworter auf diese Bedeutung verweisen, kontern Skeptiker mit Einwänden, die von Bedenken über die Funktionsfähigkeit einer erweiterten EU über Sorgen wegen Korruption bis hin zu Rücksichtnahme auf Russland reichen. Diesen Ansatz kritisieren nicht nur osteuropäische Politiker, sondern auch manche Experten. "Das sogenannte realistische Konzept wurde auf ungute Weise mit der Verteidigung europäischer Werte verbunden", heißt es in einem Thesenpapier der in Brüssel ansässigen Denkfabrik CEPS (Centre for European Policy Studies). Es sei deutlich geworden, dass das "realistische" Argument sich umgedreht habe, indem nun die Ukraine für europäische Werte kämpfe, schreiben Michael Emerson und Steven Blockmans von CEPS, sowie Veronika Movchan and Artem Remizov vom Wirtschaftsforschungsinstitut IER in Kiew.

Daher sei es an der Zeit, das Vertrauen der Ukraine - und Moldawiens sowie Georgiens - in eine europäische Zukunft zu stärken, auch um die Ambitionen von Präsident Wladimir Putin auf eine Wiederherstellung des russischen Imperiums zu stutzen. "Es gibt kein Schnellverfahren für eine EU-Mitgliedschaft", räumen die Autoren ein. "Aber ein Schnellstart ist machbar und absolut erforderlich."