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In Thatchers Tradition

Von Michael Schmölzer

Politik

Liz Truss wird Großbritanniens neue Premierministerin. Die Konservative setzt auf Deregulierung und Nationalismus.


Die Parteibasis hat gesprochen: Die britischen Tories wollen Liz Truss nicht nur als neue Parteichefin - sie wird künftig auch als Premier in Downing Street 10 residieren. Die amtierende Außenministerin setzte sich gegen ihren Rivalen Rishi Sunak mit 57 Prozent der Stimmen durch. Sie schnitt damit schwächer ab als prognostiziert.

Die Frage ist, was auf die Briten mit dem Wechsel an der Regierungsspitze zukommt. Eine radikale Änderung des bisherigen Kurses wird es kaum geben: Nach allem, was Truss bisher durchblicken ließ, wird ihre Amtszeit mehr oder weniger eine Fortsetzung der Johnson-Jahre sein. Die Ministerin blieb dem Premier bis zuletzt treu, ist eine überzeugte Brexit-Anhängerin und will die Rolle des Staates zurückdrängen. Nach ihrem Wahlsieg dankte sie ihrem Vorgänger und nannte ihn einen "Freund".

Grundsätzlich sieht sich Truss in derselben Tradition wie Margaret Thatcher, die in den 1980er-Jahren die Macht der Gewerkschaften brach und die britische Wirtschaft durch eine Rosskur von Privatisierungen und Deregulierung umkrempelte. Beobachter wollen zudem erkennen, dass Truss‘ Weltsicht nicht unerheblich von Ex-US-Präsident Ronald Reagan geprägt ist. Großbritannien und die USA stehen demnach vereint gegen Russland und China, auf Hilfe aus Kontinentaleuropa wird dabei verzichtet.

Truss will Streit mit Europa

Jedenfalls will Truss die gegenwärtige Rekord-Inflation mit Steuersenkungen bekämpfen, auch wenn ihr Ökonomen der Bank of England widersprechen und die Befürchtung äußern, dass die Preissteigerungen dadurch erst recht befeuert werden könnten. Zudem hat Truss sofortige Maßnahmen gegen die explosionsartig steigenden Energiekosten angekündigt. Millionen Briten könnten Probleme bekommen, die Belastungen zu stemmen. Die Rede ist davon, dass die Preise eingefroren werden könnten.

Die öffentlichen Ausgaben will die neue Premierministerin jedenfalls drosseln und einen Rat von Wirtschaftsexperten für "die besten Ideen" zur Ankurbelung der Wirtschaft einberufen. Sie sei "bereit, schwierige Entscheidungen zu treffen". Genaueres dazu war vorerst nicht bekannt.

In Brüssel ist man derweil Kummer mit Großbritannien gewöhnt; eine Entkrampfung der Beziehungen wird dort nicht erwartet: Truss will sofort Streit mit Europa suchen und das Nordirland-Protokoll des Brexit-Vertrags außer Kraft setzen. Dabei war die künftige Regierungschefin zunächst eine Pro-Europäerin und stimmte bei der Abstimmung 2016 für einen Verbleib Großbritanniens in der Gemeinschaft. Umso nachdrücklicher will sie jetzt ihre EU-Gegnerschaft unter Beweis stellen. Truss hat angekündigt, den britischen Rechtsbestand nach etwaigen Resten aus der Zeit der EU-Mitgliedschaft durchkämmen zu wollen. Auf jeden Fall soll die Finanzindustrie "wirklich entfesselt" werden, wie sie ankündigte. Demnach müsse die Branche stärker dereguliert und die von der EU geerbten Regeln müssten beschnitten werden.

In Schottland, wo die Unabhängigkeit von London angestrebt wird, gibt es ebenfalls keine Illusionen. Regierungschefin Nicola Sturgeon hat ihrer Antipathie bereits Ausdruck verliehen: Sie habe wenig Vertrauen, so Sturgeon, dass Truss den enormen aktuellen Herausforderungen mit ihrer Politik gerecht werden könne. "Wenn sie so regiert, wie sie Wahlkampf gemacht hat, wird es ein Desaster", befand Sturgeon gegenüber Sky News. Truss selbst ist von Sturgeon ebenfalls nicht sonderlich angetan. Der beste Umgang mit ihr sei, sie zu ignorieren, so die Tory-Politikerin.

Klar ist, dass Truss ganz generell vor enormen politischen Herausforderungen steht. In etlichen Branchen wird gestreikt, das Gesundheitswesen ist nach der Pandemie massiv unter Druck, Millionen Menschen warten auf Operationen. Pflege und Sozialfürsorge benötigen dringend Reformen.

Zunächst aber geht es darum, die Scherben aufzuräumen, die Johnson in der britischen Politik hinterlassen hat. "Mangel an Vertrauen ins Amt des Premierministers ist eines der größten Probleme, denen der nächste Amtsinhaber gegenübersteht", kommentierte die "Guardian"-Korrespondentin Pippa Crerar, deren Recherchen zur Partygate-Affäre letztlich Johnsons Sturz eingeleitet hatten.

Und dann stellt sich die Frage, inwieweit Truss über ausreichend Rückhalt in ihrer eigenen Partei verfügt. Hier gibt es unterschiedliche Ansichten. Der Politologe Matthew Flinders von der Universität Sheffield zeigt sich überzeugt, dass sich die Tories "schnell zusammenraufen" werden. Andere führen ins Treffen, dass Truss keineswegs automatisch eine Mehrheit in der Fraktion hinter sich habe. Der einflussreiche Ex-Minister Michael Gove etwa hat bereits angekündigt, dass er nicht zwingend für Truss‘ Budgetpläne stimmen werde.

Johnson ist nicht am Ende

Auch wenn Truss die Parteibasis mehrheitlich von sich überzeugt hat, bedeutet das noch lange nicht, dass sie auch bei den Britinnen und Briten generell gut ankommt. "Ironischerweise sind genau die Gründe, wegen denen Liz Truss seit Beginn als klare Favoritin im Finale galt, dieselben, warum sie Probleme haben wird, die Zustimmung der Nicht-Konservativen zu bekommen", sagte der Polit-Experte und mehrfache Buchautor Mark Garnett der Deutschen Presse-Agentur. "Sie hat direkt an die nationalistischeren, neoliberalen Konservativen appelliert, die vielleicht die Mehrheit in der Partei stellen, aber nicht die Ansichten der Durchschnittswähler widerspiegeln."

Und noch einen Faktor gilt es zu beachten: Johnsons Aus als Premier dürfte nicht sein politisches Ende bedeuten. Ein Mandat als einfacher Abgeordneter behält er, von einem Platz auf den hinteren Bänken könnte er die Regierung mit seinem Gefühl für den richtigen Zeitpunkt vor sich hertreiben. Sein langjähriger Weggefährte, der Manager und Politiker Jonathan Marland, zeigte sich in der BBC zuversichtlich, dass der Abschied nur vorübergehend sein werde. Es bestehe eine "eindeutige Möglichkeit", dass Johnson zurückkehre. Auch Experte Garnett rechnet damit. "Er sehnt sich nach Applaus, und die Umstände seines Abschieds waren demütigend." Jedes Problem, auf das Johnsons Nachfolger stoßen, werde die Rufe nach ihm lauter werden lassen.

Zumal viele Tories noch immer Johnson für einen Siegesgarant halten - und denken, dass sie nur mit ihm die kommende Parlamentswahl gewinnen können, die spätestens im Jänner 2025 stattfinden muss.