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Macht und Ohnmacht im Kreml

Von Ronald Schönhuber

Politik

Während die russischen Truppen in Lyman eingekesselt werden, besiegelt Wladimir Putin in Moskau die völkerrechtswidrige Annexion der vier besetzten ukrainischen Gebiete. Damit stehen die Zeichen erneut auf Eskalation.


Am Roten Platz wurde in den vergangenen Tagen alles vorbereitet. Arbeiter haben dort eine große Bühne und Tribünen für die große Kundgebung und das anschließende Rockkonzert aufgebaut, daneben wurden große Plakatwände aufgestellt, auf denen der Slogan "Donezk, Luhansk, Saporischschja, Cherson - Russland!" zu lesen ist. Alles hier soll zeigen, wie groß der Rückhalt der Russen für die Politik von Präsident Wladimir Putin und seine Entscheidung, die vier besetzten ukrainischen Gebiete zu annektieren, ist.

Als großer Sieger kann der Kriegsherr in Moskau an diesem Freitag allerdings nicht auftreten. Denn während Putin im Großen Kreml-Palast, wo goldgravierte Marmortafeln an die russischen Kriegshelden der Vergangenheit erinnern, mit seiner Unterschrift die völkerrechtswidrige Annexion besiegelt, kämpfen seine Truppen in Lyman einen verzweifelten Abwehrkampf. Der ukrainischen Armee ist es in den vergangenen Tagen gelungen, den Belagerungsring um die strategisch wichtige Stadt immer enger zu ziehen, in der Nacht auf Freitag haben dann auch prominente russische Militärblogger berichtet, dass Lyman de facto eingekesselt sei. Russlands in den vergangenen Monaten verfolgter Plan, die restlichen Teile des Donbass vom Norden her zu erobern, lässt sich damit nicht mehr verwirklichen.

Putin muss Fehler einräumen

Doch es ist nicht nur die Umzingelung Lymans, die wohl ebenso folgenreich sein dürfte wie der chaotische Zusammenbruch der Front im Oblast Charkiw Anfang September, die die Annexionszeremonie im Kreml überschattet. Seit Putin vor zehn Tagen die Teilmobilmachung von 300.000 Reservisten angeordnet hat, ist die Begeisterung für den Feldzug gegen die Ukraine im Land deutlich gesunken. War der Krieg früher weit weg, ist er nun mitten im Leben der Russen angekommen. Hunderttausende Männer im wehrfähigen Alter flohen ins Ausland. Diejenigen, die sich der Einberufung nicht entziehen konnten, klagen darüber, dass sie völlig unvorbereitet und ohne militärische Ausrüstung an die Front geschickt werden. In einem ungewöhnlichen Schritt sah sich Putin wenige Stunden vor der Besiegelung der Annexion sogar genötigt, erstmals "Fehler" bei der Mobilmachung einzuräumen, die nun dringend korrigiert werden müssten.

In Putins Rede vor der im Kreml versammelten russischen Elite kommen allerdings weder die Einkesselung Lymans noch die chaotische Mobilmachung vor. Stattdessen holt der russische Präsident in seiner bitteren und aggressiv vorgetragenen Ansprache zu einem Rundumschlag gegen den Westen aus. Dabei greift Putin wie auch schon bei seinen anderen zentralen Reden, die er im Zuge des Überfalls auf die Ukraine gehalten hat, weit in die Vergangenheit zurück. Er spricht über den Zerfall der Sowjetunion als größte nationale Katastrophe und wirft den USA und den Staaten Europas vor, Russland zerstören zu wollen. "Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat der Westen entschieden, die Welt mit seiner Diktatur zu überziehen", sagt Putin. Doch Russland, dessen Entwicklung und Kultur in Europa und den USA als Bedrohung gesehen werde, sei auferstanden. Der imperialistische und kolonialistische Westen suche daher nach neuen Möglichkeiten, Russland zu schwächen und zu vernichten. "Sie wollen die Menschen in die Armut stürzen und in der Abgrund treiben", sagt Putin, während im Publikum leise applaudiert wird.

In seiner Rede macht Putin auch immer wieder klar, dass es, was die besetzten Gebiete betrifft, keine russische Verhandlungsbereitschaft gibt. Die Bewohner der annektierten ukrainischen Regionen seien "für immer unsere Bürger", sagte der russische Präsident, um anschließend einmal mehr zu betonen, dass Russland sein Staatsgebiet mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen werde. Schon in der Vergangenheit hatte Putin auf diese Art und Weise implizit mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht.

Folgt nun ein Ultimatum?

Was der proklamierte Anschluss in der Praxis bedeutet, spricht Putin an diesem Freitag abseits von seiner allgemeingehaltenen Drohung nicht an. Die westlichen Staaten wie auch die Regierung in Kiew haben aber bereits vor den Scheinreferenden in den besetzten ukrainischen Gebieten angekündigt, eine Annexion niemals anerkennen zu wollen. Große Gebiete in den vier besetzten Oblasten stehen zudem nicht einmal unter russischer Kontrolle.

Für Putin verengen sich damit zweifellos die Möglichkeiten. Da auch die 300.000 Reservisten laut westlichen Militärexperten keine militärische Wende vor dem Beginn des Winters bringen, bleibt Putin vor allem die Option, die Ukraine per Ultimatum dazu aufzufordern, ihre Truppen aus den von Russland beanspruchten Gebieten abzuziehen - wohl untermauert von weiteren nicht-konventionellen Eskalationsdrohungen wie einem Kappen der Gasversorgung oder vielleicht auch einem Nuklearschlag.

Wie der Westen und die Ukraine, die nach Putins Rede einen beschleunigten Nato-Beitritt beantragt hat, darauf reagieren werden, ist unklar. Sollte Putin aber zum Äußersten bereit sein, würde wohl auch die Nato in den Konflikt eingreifen. Sowohl US-Außenminister Antony Blinken als auch der Nationale Sicherheitsberater Jack Sullivan haben Moskau in den vergangenen Tagen mit "katastrophalen Konsequenzen" gedroht, sollte Russland in der Ukraine Atomwaffen einsetzen.