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"So kündigt uns der Russe die Exekution an"

Von Michael Schmölzer

Politik

Millionen Deutsche gerieten in sowjetische Kriegsgefangenschaft, auch mein Großvater. Er hinterließ ein Tagebuch.


Zwei Jahre nach dem Ende der deutschen 6. Armee in Stalingrad verläuft die Front mehr als 2.000 Kilometer weiter westlich. Anfang Mai 1945 ist Berlin von der Roten Armee erobert, Adolf Hitler tot, die Wehrmacht zerschlagen. Noch aber ist der Krieg nicht offiziell vorbei.

Mein Großvater, Hans Schmölzer, Hauptmann bei der Fliegerabwehr, sitzt zu diesem Zeitpunkt mit seiner Einheit irgendwo östlich von Prag und beobachtet mit Ingrimm den militärischen Zusammenbruch. Er verflucht in seinem Kriegstagebuch die deutsche Heeresleitung, die ihn zum Ausharren auf seinem Posten zwingt. Und die Rote Armee kommt immer näher.

Die Aufzeichnungen befanden sich in seinem Nachlass. Es ist ein zeitgeschichtliches Dokument und bisher unveröffentlicht. Ich selber habe Hans Schmölzer, der 1989 gestorben ist, kaum gekannt und nur schemenhafte Erinnerungen an einen sehr alten Mann.

Mein Großvater weiß zu Kriegsende jedenfalls, dass ihm in russischer Kriegsgefangenschaft Arbeitslager, Krankheit und Tod drohen. In Stalingrad fielen am 2. Februar 1943 91.000 Mann den Sowjets in die Hände. Die Besiegten - es sind tausende Österreicher darunter - schleppen sich zu Fuß in die umliegenden Sammellager. Es wird für die meisten ein Marsch in den Tod. Wer nicht weiterkann, wird einfach erschossen, viele sterben an Entkräftung.

Zu diesem Zeitpunkt sind allerdings bereits zahllose sowjetische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam gestorben. Zwei Millionen Soldaten sind bis zum 1. Februar 1942 umgekommen, die meisten verhungert oder Krankheiten zum Opfer gefallen.

In Todesangst

Im Mai 1945 will sich Hans Schmölzer nach Westen absetzen, wo die Amerikaner und Briten vorstoßen, die mit deutschen Soldaten milder verfahren. Doch der Befehl kommt nicht, seine Kameraden wollen ihren Posten nicht verlassen. Er ist zu Untätigkeit verdammt. Am 3. Mai rechnet er, ursprünglich ein überzeugter, begeisterter, später ein rückfälliger Nazi, mit dem Regime ab und nennt Hitler und dessen Helfer "größte Verräter aller Zeiten". Seine Wut ist enorm, den Nationalsozialismus bezeichnet er an anderer Stelle als "Eiterbeule", Goebbels ist ein Scharlatan, von dem er sich "nicht bedeppen" lässt.

Sowjetische Panzer nähern sich, Panik bricht aus, mein Großvater macht sich am 8. Mai per Lkw und Zug in kopfloser Flucht auf den Weg in Richtung Österreich und will seine Heimatstadt Steyr erreichen. In Krems ist Endstation. Er wird am 14. Mai von einem russischen Soldaten einer Leibesvisitation unterzogen - "abgestiert" habe man ihn, schreibt er, dann geht er in Kriegsgefangenschaft. Zu Fuß, wobei die mitleidige Bevölkerung Wassereimer an den Straßenrand stellt, auf die sich die Gefangenen durstig stürzen. Vorerst bleibt er in verschiedenen sowjetischen Gefangenenlagern in Niederösterreich. Unter den österreichischen Gefangenen entwickelt sich ein Gefühl des Zusammenhaltes.

Er notiert, dass ein Mitgefangener, mit dem er die Stube geteilt hat, erhängt aufgefunden wird. Es ist Selbstmord, die tätowierte Blutgruppe unter der Achsel macht ihn als SS-Mann kenntlich.

Dann wird die große Befürchtung aller wahr: Es geht nicht, wie erhofft, nach Hause, sondern per Zug in Richtung Osten, in ein unbekanntes Arbeitslager. Am 4. April 1946 notiert mein Großvater: "Elf Offizieren unseres Waggons gelingt es, nach Entfernung eines Fußbodenbrettes aus dem fahrenden Zuge unter die fahrenden Waggons zu gelangen, den Zug über sich hinwegrollen zu lassen, um zu fliehen, alles bei stockdunkler Nacht. Es war uns ein Befehl verlesen worden, dass in einem solchen Falle die im Waggon Zurückbleibenden, wenn sie nicht zeitgerecht von den Fluchtvorbereitungen die Russen verständigen, erschossen werden. So stellt uns der Russe in der Morgendämmerung am Waldrand auf und kündigt uns die Erschießung an. Furchtbare zwei Stunden. Auf einmal tritt Dr. Fischer aus Wien vor unserer Linie auf den russischen Offizier zu und erklärt ihm, wir hätten alle von der Flucht der elf Offiziere nichts merken können, weil wir geschlafen hätten, er allein hätte davon gewusst und sei daher allein zu erschießen. Darauf schlug der Russe dem Dr. Fischer so schwer ins Gesicht, dass dieser einen Knochenbruch erlitt. Und nun befahl uns allen der Russe, sofort wieder in die Waggons einzusteigen. Dies, als gerade von den ersten Waggons des Zuges vier Mann mit Gewehren auf uns zukamen. Wir alle klapperten unentwegt vor Aufregung mit den Zähnen."

Es geht weiter Richtung Sowjetunion, schließlich erreichen sie das Lager Fogsani im Osten Rumäniens. Dort ist mein Großvater die nächsten Monate interniert - und er leidet sichtlich. Das hat einen bestimmten Grund, wie er am 12. Mai 1946 notiert: "Die Verhältnisse hier sind schlechter als in den früheren Lagern. Die Führung ist deutsch und wir sind in deutscher und nicht in russischer Gefangenschaft." Das Essen reicht nur knapp, Hans Schmölzer schreibt, dass er infolge von Vitaminmangel nachtblind wird.

Die deutsche Organisation ist ihm ein Gräuel: "Ich weiß nicht, was hier das Schwerste ist", schreibt er am 19. Juni 1946. "Das ständige Kommandogeschrei der als Bettler aufs Ross gekommenen, nur um ihren ‚Nachschlag‘ besorgten Mannschaftspersonen als Vorgesetzte, oder die seit dem 8. Mai immer gleiche Sauerkrautstrunk-Erbsensuppe zu allen Mahlzeiten." Die meisten Insassen, auch mein Großvater, leiden an Durchfällen. Mit 517 anderen ist er in der Nacht auf 200 Quadratmetern zusammengepfercht.

Im Lkw über den Roten Platz

Dann geht es weiter Richtung Osten, mein Großvater bilanziert: Das Leben in dem Lager Fogsani sei so schwer wie noch nirgends gewesen, "die Schikanierungen und das Bestehlen durch die deutschen Führer" hätten ihm "das Leben verbittert".

Doch jetzt, am 28. Oktober 1946 geht es tief hinein in die ehemalige Sowjetunion. "Wir fuhren über - (. . .) - Fastow - Kiew - Kursk - Briansk - Wjassma - Rschew nach Moskau." Im Norden der Hauptstadt wird er mit den anderen in der Dunkelheit auf einen Lkw verladen und quer durch die Stadt gefahren. "Um halb acht Uhr abends geht es die Prachtstraße über den Roten Platz mit dem Kreml bei glanzvollem, abendlichem Großstadtbetrieb", schreibt er. Als er das Lager erreicht, ist mein Großvater zunächst erfreut: "Die Verhältnisse scheinen hier viel besser zu sein als in Fogsani. Ich habe eine Bettstelle mit Drahteinsatz."

Die Freude ist aber schnell verflogen, als er von der sowjetischen Lagerleitung in eine Brigade eingeteilt wird, die schwere Betonplatten schleppen muss. Laut Genfer Konvention dürfen kriegsgefangene Offiziere nicht zu körperlicher Arbeit herangezogen werden, doch hat die Sowjetunion unter Josef Stalin das Abkommen nicht unterzeichnet und schert sich nicht darum.

Schließlich erreicht mein Großvater, der ehemals respektable Rechtsanwalt aus Steyr, den Tiefpunkt seiner Karriere: "Mit Szekely entferne ich aus einer unendlich armseligen Arbeiterwohnung neben unserem N.k.w.d. - Nazionalni kommissariat vnutrinich diel-Bau (Nationales Kommissariat für innere Angelegenheiten, Anm.) - das durch einen Kanalbruch eingedrungene Kloakenwasser mit einer Konservenbüchse", notiert er am 11. November 1946. Immerhin erhält er von den dankbaren Bewohnern "5 Deka Blutwurst und 3 Zwiebel, die gierigst verschlungen werden". Weiter berichtet er von der Aufräumaktion: "Als ich den anwesenden Arbeiter um die Zeitung ‚Prawda‘ (auf deutsch: ‚Wahrheit‘) bat, bezeichnete er die Kloake im Zimmer als ‚Prawda‘".

Rettende Kenntnisse

Das große Glück meines Großvaters ist, dass er, schon bevor er in Kriegsgefangenschaft gekommen ist, damit begonnen hat, Russisch zu lernen. Das rettet ihm wahrscheinlich das Leben, weil er als Dolmetscher arbeiten kann und dann in einem Sägewerk im Büro nachrechnet, ob seine Mitgefangenen ihr Plansoll erreicht haben, wovon die Größe der Essensrationen abhängt. "Tag für Tag schleppen meine Kameraden, Ärzte, Künstler, die schweren Baumstämme vom Hafen der Moskwa in die Säge - seit zwei Monaten berechne ich täglich nach den gesetzlichen Normen die Prozente des vorgeschriebenen Arbeitssolls, die für das Ausmaß des täglichen Brotes aller Leute maßgebend sind", lautet der Eintrag am 28. August 1947.

Hauptsächlich aber drehen sich die Notizen meines Großvaters um die große Hoffnung, endlich nach Hause zu kommen. Unzählige Male taucht im Lager das Gerücht auf, es sei nun endlich so weit, immer wieder wird die Hoffnung enttäuscht. Er wird von Läusen und Wanzen gequält, ist zerlumpt, die Mangelernährung führt zu Abszessen. Hans Schmölzer hat Wasser in den Beinen, er erkrankt an Malaria, es plagt ihn die Angst, "als Wrack" nach Hause zu kommen. Die meisten Mitgefangnen sind krank und nicht arbeitsfähig.

Am 25. Oktober 1947 ist es dann so weit: Der "Lagerführer" teilt meinem Großvater mit, dass er heimfahren darf. Seine Reaktion: "Eine zitternde Freude. Unausdenklich." Es dauert dann noch einen Monat, bis er mit dem Zug in Linz ankommt.