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Migration drängt auf EU-Agenda

Von WZ-Korrespondent Andreas Lieb

Politik

Österreich könnte beim EU-Gipfel rauer Wind entgegenwehen. Der Wirbel ums Schengen-Veto ist noch nicht ausgestanden.


Auf einen Tag verkürzt wurde der Dezember-Gipfel - dafür wird es am heutigen Donnerstag in Brüssel wohl bis tief in die Nacht gehen. Denn an strittigen Themen mangelt es der EU derzeit wahrlich nicht. Immerhin dürfte wenigstens ein Disput ausbleiben, mit dem bis vor kurzem noch viele gerechnet hatten: Die Einigung mit Ungarn über die weitere Vorgangsweise rund um die eingefrorenen EU-Mittel und das Aufgeben der Veto-Haltung bei der Ukraine-Hilfe lassen den Schluss zu, dass sich der Gipfel nicht auch noch mit dieser Frage herumschlagen muss.

Dafür könnte Österreich plötzlich im Feuer der Kritik landen. Die mit Unterstützung der Niederlande durchgezogene Blockade der Schengen-Erweiterung um Bulgarien und Rumänien ließ die Wogen hochgehen; ein Ende ist nicht in Sicht. Bundeskanzler Karl Nehammer will heute das breiter angelegte Thema Migration ansprechen; die beiden abgewiesenen Länder haben bereits angekündigt, das als willkommenen Anlass für eine Schengen-Debatte zu nehmen.

Ringen um Gaspreisdeckel

Einen Vorgeschmack darauf, wie sich das darstellen könnte, lieferte am Dienstagabend eine heftige Debatte im EU-Parlament in Straßburg. Das Motto lautete: Österreich gegen den Rest Europas. Schon zum Auftakt hielt sich EU-Innenkommissarin Ylva Johansson, die vor kurzem Wien zumindest zugestanden hatte, beim hohen Aufkommen von Asylanträgen einen Punkt zu haben, nicht zurück: "Wir haben alle bei der Abstimmung letzte Woche verloren. Es gibt nur einen Gewinner, und der heißt Wladimir Putin." Das saß. Als dann auch noch der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, der sich bei seinem Besuch in der Vorwoche in Wien noch vorsichtig zurückgehalten hatte, das Veto aus seinen eigenen Reihen "einen Fehler" nannte, brachen alle Dämme. Österreich habe aus ausschließlich innenpolitischen Motiven gehandelt, das sei schäbig, hieß es da. Nehammer sei eine "politische Puppe Putins", sagte ein rumänischer Abgeordneter.

Ein eigener Punkt auf der Tagesordnung des EU-Gipfels ist Schengen aber nicht gewidmet. Nehammer will dafür die Gelegenheit nutzen, auf den vor einigen Wochen an die Kommission übermittelten Fünf-Punkte-Plan mit Verbesserungsvorschlägen für das Asylsystem hinzuweisen.

Doch abseits dieser Auseinandersetzung müssen sich die Spitzenpolitiker heute auch noch mit weiteren drängenden Fragen auseinandersetzen. So hatten es die Energieminister der EU-Länder am Dienstag neuerlich nicht geschafft, sich auf einen Gaspreisdeckel zu verständigen. Am kommenden Montag treffen sie ein weiteres Mal zusammen - der Gipfel soll nun endlich in der leidigen Frage die Weichen stellen.

"Dieses Jahr hat unsere Energielandschaft radikal verändert und macht deutlicher denn je, dass wir gemeinsam handeln müssen", appelliert Ratspräsident Charles Michel daher in seinem Einladungsschreiben an die Staats- und Regierungschefs. Zwei von drei Rechtstexten - die beschleunigten Genehmigungsverfahren und die Solidaritätserklärung - sind bereits unter Dach und Fach, auch der gemeinsame Gaseinkauf ist eingeleitet. Beim Deckel scheiden sich aber nach wie vor die Geister, weil die Ausgangslagen in den Ländern zu unterschiedlich sind. Die Kommission will nach Jahresbeginn einen Vorschlag für eine Reform des Energiemarktes vorlegen.

Sanktionen gegen Russland

Generell werden sich die Gipfelteilnehmer mit dem außenpolitischen Hauptthema, dem Ukraine-Krieg, beschäftigen. Das neunte Sanktionspaket gegen Russland ist auf dem Weg; Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat es wieder vorab vorgestellt. Nun müssen die EU-Länder gegenseitig ihre Positionen abklopfen: Was ist machbar, was zu hinterfragen? Die EU will noch genauer hinschauen: "Wir zerlegen die sichergestellten Waffenteile der Russen und schauen hinein, welche westlichen Komponenten drinnen sind", wie es ein EU-Diplomat beschreibt. Ein eigener Punkt sind Drohnen und ihre Bestandteile, auf der Sanktionsliste stehen auch Bergbaubetriebe, Finanzdienstleister und Medienunternehmen. Nicht immer ist die Entscheidung leicht: Entwicklungsländer sind in Sorge wegen der Lebensmittelproduktion, sie wollen Ausnahmen bei Produkten, die der Nahrungserzeugung dienen. Mehrere EU-Mitglieder, so heißt es, wollen den betroffenen Nationen klar signalisieren, dass sich Europa da nicht gegen ihre Interessen stellt. Andere, allen voran Polen und die baltischen Staaten, warnen vor großen Sanktionslücken zugunsten der "Düngemitteloligarchen".

In Brüssel ist man sich jedoch einig, dass man sich gerade bei solchen Themen nicht auseinanderdividieren lassen will. Vor wenigen Tagen erst hatten sich die EU-Staaten für das kommende Jahr auf ein Milliarden-Euro-Paket für das kriegsgebeutelte Land verständigt. Auch die militärische Unterstützung von Ländern wie der Ukraine will die EU mehr als verdoppeln. Nun geht es um humanitäre Hilfe; die EU muss sich auf einen weiteren Zustrom von Schutzsuchenden aus der Ukraine vorbereiten, falls die zerstörte Infrastruktur und ein kalter Winter neue Fluchtwellen auslösen.

Konflikt mit den USA

Noch vor Weihnachten will die EU eine weiteren Kooperationserklärung mit der Nato unterzeichnen. Diese Übereinkünfte werden immer wichtiger, zumal ja ein Großteil der Nato-Staaten mit jenen der EU ident ist und das gemeinsame militärische Entwicklungspotenzial akkordiert werden muss. Österreich wird sich, mit anderen neutralen Ländern wie Irland und Malta, auch diesmal mit der "irischen Klausel" aus dem aktiven Bereich nehmen.

Im Spiel mit der EU bleiben hingegen die USA, auch das ein Gipfelthema. Das riesige US-Investitionsprogramm, der sogenannte Inflation Reduction Act, sorgt für Streit zwischen Washington und Brüssel. Die transatlantischen Beziehungen sollen im Rahmen einer Arbeitsgruppe wieder entspannt werden.