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Schlimme Zustände in britischen Notaufnahmen

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Zuwenig Personal, zuviele Patienten: Immer mehr britische Spitäler rufen den Katastrophenfall aus.


Als vor wenigen Tagen Dave Wynne seine 95-jährige Mutter mit dem Verdacht auf Blutvergiftung in die Notaufnahme der örtlichen Klinik in Chester schleppte, traute er seinen Augen nicht - obwohl er vor der Lage an den Spitälern überall in England gewarnt worden war. "Wie ein Feldlazarett aus Kriegszeiten" kam ihm die "Accident and Emergency"-Abteilung der Klinik, die A&E-Station, vor - oder eher noch "wie eine Szene aus der Hölle". Bis auf den letzten Platz war alles besetzt im Warteraum.

"Ein Mann war offenbar auf einer Sesselreihe kollabiert, mit schweren Unterleibsschmerzen", berichtete Wynne. Andere Hilfsbedürftige saßen, zwischen Pfützen von Erbrochenem, auf dem Boden. Alle waren sichtlich in Not. "Und einige atmeten schwer." Das Hilfspersonal, das sich redlich mühte, konnte mit dem Andrang schlicht nicht fertig werden. Acht Personen sah Wynne an diesem Nachmittag im Gang zur Notaufnahme auf Trolleys, auf fahrbaren Krankenbetten, liegen. Acht weitere, enthüllte eine Krankenschwester, warteten zugleich in Rettungswagen draußen vor der Klinik auf Zugang zur Notaufnahme, einige davon mit Herzinfarkten. "Es war eines der schockierendsten Dinge, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe", meinte Dave Wynne.

Kritik vom Verband der Notärzte

Wynnes Bericht hat seither eine Großzahl seiner Mitbürger erschüttert. Seine Mutter hatte er selbst zur Klinik gefahren, nachdem man ihm am Telefon erklärt hatte, er müsse 14 Stunden auf einen Rettungswagen warten. Vier Stunden dauerte es, bis die Patientin in der Notaufnahme vom dortigen Personal erstmals angesprochen und "eingeordnet" wurde. Um Mitternacht war sie endlich auf der Station. Erst um halb acht am nächsten Morgen aber bekam sie einen Arzt zu sehen. "Ich kann nicht glauben, dass das unser Gesundheitswesen ist", sagte ihr Sohn.

Ein Einzelfall war das Ganze jedenfalls nicht. Die extremste Erfahrung machte in den vergangenen Tagen ein Patient in der südenglischen Stadt Swindon, der als "dringender Fall" eingeliefert wurde, aber 99 Stunden auf einem Not-Trolley liegen musste, bis ein Bett frei wurde für ihn.

Die dreijährige Tochter einer Familie in Oxford, die an Scharlach und Krupp litt, musste in völliger Erschöpfung auf Sesseln schlafen - und das 22 Stunden, nachdem ihre Eltern um Hilfe gebeten hatten und fünf Stunden nach dem Eintreffen auf der A&E-Station. Pflegerinnen und Pfleger vor Ort hätten sich "auf fantastische Weise" um seine kleine Heidi gekümmert und in einem "völlig kaputten System" einen "fast unmöglichen Job" verrichtet, berichtete hernach, selbst am Ende seiner Nerven, ihr Vater Tom Hook.

Die Situation an den englischen Notaufnahmen sei mittlerweile "äußerst ernst", pflichtete ihm Adrian Boyle, der Präsident des Royal College of Emergency Medicine, des Verbands der Notärzte, bei. Wegen der aktuellen Grippe- und der neuen Covid-Welle in Großbritannien steckten "viel zu viele Menschen zurzeit in unseren Notfallabteilungen fest", erklärt es Boyle. Langfristig sei das Problem aber natürlich auch "eine Folge unzureichender Kapazität, mangelnder Personalplanung und fehlender Investitionen", eben der chronischen Krise im Gesundheitsbereich.

Nach Schätzungen des Royal College muss man derzeit in England mit bis zu 500 Todesfällen pro Woche zusätzlich rechnen, nur weil den Betreffenden dringend nötige Hilfe nicht rechtzeitig zuteil wird. Vor einem Jahr noch, berichtet Verbandschef Boyle, habe die übliche Zeit zwischen einem Hilferuf und dem Eintreffen eines Rettungswagens 20 Minuten betragen. Im vergangenen Dezember seien es "im Schnitt eineinhalb Stunden" gewesen. "Und in den letzten paar Tagen des Tages waren es zweieinhalb Stunden und mehr."

Premier sieht keine Krise im Gesundheitswesen

Immer mehr Kliniken haben denn auch inzwischen den Katastrophenfall ausgerufen. Viele haben volle Betten-Kapazität erreicht. Im Kreisverband Luton und Milton Keynes erwägt man, auf dem Gelände der dortigen zentralen Klinik Hilfesuchende in Zelten unterzubringen. Mehrere Spitäler melden zu Beginn dieses Jahres auch, dass ihnen der Sauerstoff in tragbaren Flaschen ausgeht. In der Grafschaft Surrey fragt man sich besorgt, ob man die Leichenhallen erweitern muss.

"Schlimmer als zu Beginn der Covid-Pandemie" sei die Lage, klagen Ärzte und Pfleger. Die Oppositionsparteien verlangen derweil, dass die Regierung einen nationalen Notstand ausruft. Und dass sie das Parlament, das eigentlich erst nächste Woche wieder zusammentreten sollte, vorzeitig einberuft. Regierungschef Rishi Sunak und Gesundheitsminister Steve Barclay lassen sich unterdessen, wegen erneut in Aussicht stehender Arbeitskämpfe, nirgends im Umfeld von Krankenhäusern blicken. Sunaks Sprecher meinte am Dienstag nur, die Kliniken verfügten über alle Mittel, die sie bräuchten. Zusätzliche Milliarden habe man bereitgestellt. Und eine Krise im Gesundheitswesen gebe es nicht wirklich. Das Ganze sei bloß eine weitere, sehr spezielle "Herausforderung".