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Schwedens Rückzug innerhalb der EU

Von Alexander Dworzak

Politik

Schweden hat nun den EU-Ratsvorsitz inne. Die neue Mitte-rechts-Regierung stellt nationale vor europäische Lösungen.


Grün steht auch ohne Öko-Regierungspartei hoch im Kurs der schwedischen Koalition. Ein "grüneres, sichereres und freieres Europa" stellt der konservative Premierminister Ulf Kristersson ins Zentrum des schwedischen EU-Ratsvorsitzes im ersten Halbjahr. Um das zu untermauern, macht sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in der kommenden Woche auf den Weg nach Kiruna. Die 23.000-Einwohner-Stadt nördlich des Polarkreises repräsentiert laut Schwedens Regierung sowohl "die schöne Natur als auch den grünen industriellen Übergang im Norden des Landes".

Selbstbild und tatsächliche Politik klaffen jedoch auseinander, seitdem Kristersson Mitte Oktober sein Amt angetreten hat. Bisher hielt Schweden die EU-Spitzenposition, denn 60 Prozent des nationalen Gesamtenergiemixes stammten aus erneuerbaren Energien. Nun wird der Ausbau erneuerbarer Energien zurückgefahren. Ziel ist nicht mehr zu 100 Prozent erneuerbare, sondern fossilfreie Energie - was die Renaissance der Kernkraft bedeutet. Die Budgetmittel für Umwelt und Klima sollen halbiert werden. Das Umweltministerium wurde als eigenständiges Ressort abgeschafft, Umwelt und Klima sind nun Teil des Wirtschaftsministeriums. Experten warnen davor, dass Schweden seine Klimaziele für das Jahr 2030 verfehlen wird, auch weil die Verringerung von Treibhausgasen in Benzin und Diesel durch die Beimischung erneuerbarer Brennstoffe aufgeweicht und an die EU-Minimumvorgaben angepasst wird.

Dieser Wandel von der treibenden Kraft bei Umwelt und Klima zum Mitläufer in der EU ist Resultat der neuen Regierungskonstellation. Seit Mitte Oktober regiert Kristersson von der Moderaten Sammlungspartei gemeinsam mit Christdemokraten und Liberalen. Die Minderheitsregierung der drei Parteien wird von den rechtspopulistischen Schwedendemokraten (SD) geduldet - zweitstärkste Kraft des Landes bei der Wahl im September, noch vor den Moderaten. Bis 2019 forderten die Schwedendemokraten den EU-Austritt des Landes. Mittlerweile wollen sie den Einfluss der nationalen Regierungen innerhalb des Unionsgefüges stärken, keine Kompetenzen an EU-Kommission, EU-Parlament oder andere überstaatliche Institutionen abtreten, unionsweite Steuern verhindern und die Haushaltsbeiträge des Nettozahlers Schweden stark verringern.

Das Land scheint sich nun unter jenen EU-Staaten einzureihen, "die nationale vor europäische Interessen stellen, primär nationale Lösungen suchen, nur noch das Nötigste an EU-Vorgaben umzusetzen bereit sind und somit verstärkt ,Rosinenpickerei’ betreiben", analysiert Tobias Etzold, Politikwissenschaftler an der NTNU Trondheim. Er betont in einer Analyse für die Nordeuropa-Plattform "vifanord" jedoch auch, dass dies nicht nur an den Schwedendemokraten liegt. Moderate und Christdemokraten wirkten im Gegensatz zu früheren Regierungsbeteiligungen EU-skeptischer. Im Gegensatz dazu befürworten die Liberalen sogar die Euro-Einführung, würden sich damit aber nicht durchsetzen können.

Weniger Geld für Entwicklung

Große Veränderungen zeichnen sich auch in der Entwicklungspolitik ab. Das bisherige Ziel, ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungshilfe auszugeben, wurde kassiert. Es gibt keine festen Vorgaben mehr, die Ausgaben können von Jahr zu Jahr variieren. Etzold sieht in dem geringeren Engagement einen Widerspruch zum Vorsatz der Regierung, Migration nach Europa und Schweden durch mehr gezielte Hilfe an Drittländer vor Ort zu unterbinden.

Eine sicherheitspolitische Zeitenwende erlebte auch Schweden mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Wie Nachbar Finnland ist Schweden gewillt, die traditionelle militärische Bündnisfreiheit aufzugeben und der Nato beizutreten. Zwei der 30 Mitglieder haben die Anträge noch nicht bewilligt: Ungarn und die Türkei. Während die Regierung von Premier Viktor Orban zwischenzeitlich ein Ja angekündigt hat, nutzt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seine Vetooption für einen Schwenk in der Kurden-Politik der beiden nordeuropäischen Länder. Entsprechende bilaterale Abkommen wurden geschlossen, jedoch zögerte Schweden bisher bei der Auslieferung von Personen, die laut türkischer Lesart Terrorverdächtige sind.

Etzold erwartet aber auch in diesem Punkt eine Abkehr von der Linie der sozialdemokratischen Vorgängerregierung. In der Mitte-rechts-Regierung bestehe eine weit geringere emotionale Bindung zur Kurdenfrage. Auch distanzierte sich die Regierung öffentlich von der syrisch-kurdischen Miliz YPG - im Kampf gegen des "Islamischen Staat" einst enge Verbündete der USA - und deren politischem Arm PYD. "Für die bürgerlichen Parteien ist der Nato-Beitritt zu wichtig, als dass sie ihn an einem türkischen Veto scheitern lassen würden", erklärt Politologe Etzold.

Abschied von der Weltbühne

Konsens mit den Sozialdemokraten besteht hingegen darin, die Verteidigungsausgaben deutlich zu erhöhen. Diese lagen vor dem Krieg in der Ukraine bei 1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das Zwei-Prozent-Ziel will Schweden bis 2026 erreichen. Und die Waffenlieferungen an die Ukraine sollen ausgebaut werden.

Schwedens Politik geht dabei Hand in Hand mit den nordeuropäischen Nachbarn sowie den baltischen Staaten. Auf die nahe Umgebung scheint sich Schweden in den kommenden Jahren zu konzentrieren. Die selbsterklärte "humanitäre Supermacht", die Ulf Kristerssons konservativer Parteifreund, Ex-Premier Fredrik Reinfeldt, in den Zehnerjahren propagierte, hat ausgedient. Tobias Etzold resümiert, bisherige Aussagen der Regierung deuten darauf hin, dass sich Schweden "weitgehend von der Weltbühne zurückziehen" wird.