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Grabesruhe nach dem Sturm

Von Christoph Rella

Politik

Das deutsch-russische Gedenken an den 80. Jahrestag der Schlacht von Stalingrad fällt heuer aus. Die deutsche Kriegsgräberfürsorge in Russland steht in Zeiten des Krieges besonders unter Beobachtung des Kreml.


Erst vor wenigen Tagen wurden wieder Gebeine von 35 deutschen Soldaten in der Erde entdeckt. Als ein Bauarbeiter bei Rohrarbeiten in der Nähe von Wolgograd auf die Knochen stieß, meldete er den Fund umgehend an die Behörden, die wiederum die zuständige deutsche Kriegsgräberfürsorge, Volksbund genannt, informierten und die Übergabe der Gebeine in die Wege leiteten. Zumindest, was die würdige Behandlung der Toten des Zweiten Weltkrieges betrifft, scheint die Zusammenarbeit zwischen Russen und Deutschen (noch) zu funktionieren.

Eine Zusammenarbeit, die vor mehr als 30 Jahren begonnen hat - und nun durch den seit einem Jahr tobenden Ukraine-Krieg vor der größten Herausforderung seiner Geschichte steht. Wie lange wird der Volksbund die Soldatengräber in Russland noch pflegen dürfen, wenn einmal die vom Westen zugesagten deutschen Leopard-Panzer im Donbass auf russische Stellungen schießen? Und was wird aus der 37 Kilometer nordwestlich von Wolgograd liegenden deutschen Gedenkstätte Rossoschka, die man erst vor 23 Jahren in die Weite der Steppe gesetzt hat?

Es ist dies eine Ungewissheit, die die Funktionäre des Volksbundes bereits länger umtreibt. An eine gemeinsame Gedenkveranstaltung mit russischen Vertretern, wie man sie etwa noch vor fünf Jahren anlässlich des 75. Jahrestages der Kapitulation der eingekesselten 6. Armee in Rossoschka begangen hat, war in diesem Februar nicht zu denken. Überhaupt ist beim Volksbund seit dem russischen Angriff auf die Ukraine nichts mehr so, wie es einmal war, wie die Volksbund-Sprecherin Diane Tempel-Bornett im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" erklärt. "Wir treten derzeit nicht groß auf. Wir pflegen die Gräber weiter, wenn auch nur technisch, und gehen sehr behutsam vor."

Als ausländische humanitäre Organisation ist die Gefahr, ins Fadenkreuz der russischen Regierung und des Geheimdienstes zu geraten, nach wie vor hoch. Zwar wird der Volksbund, der in der Russischen Föderation aktuell 147 Soldatenfriedhöfe betreut, noch nicht - wie bei den meisten von internationalen Geldgebern abhängigen Vereinen in Russland der Fall - als "ausländischer Agent" geführt, aber der Druck bleibt hoch.

Bereits zu Kriegsbeginn hatte der Volksbund das deutsche Personal aus Sicherheitsgründen aus Russland abziehen müssen. "Wir haben nur noch einen Vertreter in Moskau", erklärt Tempel-Bornett. "Wir tun, was irgendwie noch geht." Dass der Kreml die Kriegsgräberfürsorge bis dato weitgehend in Ruhe gelassen hat, mag auch an jenem völkerrechtlich bindenden Vertrag liegen, den die Regierungen Russlands und Deutschlands am 15. Mai 1992 abgeschlossen hatten und der vorsieht, dass sich beide Länder jeweils um ihre Soldatengräber kümmern.

Eigener Umbettungsdienst

Schließlich sind auch in deutscher Erde zigtausende Rotarmisten bestattet, und es ist wohl im Interesse Moskaus, dass auch diese Gräber weiterhin betreut werden. Tatsächlich ist die Gedenkstätte Rossoschka, wo derzeit rund 62.000 Wehrmachtsangehörige begraben sind, im Vergleich zu den Friedhöfen der Roten Armee in Deutschland jung. Erst im Frühsommer 1999 wurde der kreisförmige, sechs Hektar große Komplex eingeweiht und 2016 um eine ökumenische Friedenskapelle erweitert.

Rossoschka selbst besteht eigentlich aus mehreren Friedhöfen, dem alten, noch von der Wehrmacht angelegten Friedhof in der Nähe des ehemaligen Flugplatzes Gumrak (der aktuell den Verkehrsflughafen von Wolgograd beherbergt) sowie dem neuen, in einer kleinen Schleife des gleichnamigen Flusses liegenden. Hinzu kommt die Gedenkstätte für jene knapp 15.000 gefallenen Wehrmachtsangehörigen aus dem Stadtgebiet von Wolgograd, die nicht geborgen werden konnten und deren Namen in alphabetischer Reihenfolge auf 17 Würfeln aus Granit eingemeißelt sind. (Auf weiteren 117 Granitwürfeln finden sich die Namen von 119.505 vermissten Soldaten.) Der Entwurf für die Gräberanlage in Rossoschka stammt aus der Feder des Kasseler Architekten Jürgen von Reuß, der mit dieser Anordnung die Eigenarten der Kulturlandschaft - den scharfen Wind im Winter, die unerbittliche Hitze im Sommer und die Weite der Steppe und ihre dröhnenden Stille - einzufangen suchte.

Bezahlt wurde die Errichtung von Rossoschka von der deutschen Regierung in Berlin und verschlang mehrere Millionen Euro. Hinzu kommen Ausgaben für den laufenden Betrieb, der von russischen Ortsfirmen aufrechterhalten wird und rund 40.000 Euro pro Jahr kostet. Für Gesamtrussland beläuft sich das Volksbund-Budget auf immerhin 650.000 Euro. Kostspielig sind hier vor allem die Umbettungen neu entdeckter Gebeine - so wie zuletzt im September 2019, als in Rossoschka 1.837 tote Soldaten ihre letzte Ruhestätte fanden. Damals bezeichnete der extra angereiste Volksbundpräsident Wolfgang Schneiderhan die Arbeit der Deutschen in Wolgograd als "große Erfolgsgeschichte", die noch lange nicht beendet sei. "Ich glaube, auf dem Gebiet Russlands, der Ukraine und Weißrusslands können wir von 300.000 reden, die noch gefunden werden können", sagte der Präsident. Dabei betreut die deutsche Kriegsgräberfürsorge jetzt schon rund 600.000 Gräber allein in Russland, in ganz Osteuropa sind es etwa eine Million. Rund 30.000 Suchanfragen erreichen die Organisation jährlich - auch aus den USA oder Australien. Dort interessieren sich die Nachkommen deutscher Auswanderer für das Schicksal ihrer Vorfahren.

Mit Blumen nach Wolgograd

Bis zum Beginn des Ukraine-Krieges wurden die deutschen Soldatenfriedhöfe von den Nachkommen auch persönlich aufgesucht. Dabei zählte Ros-soschka, das auch eine Gedenkstätte für 3.000 sowjetische Soldaten beherbergt, zu den am meisten besuchten Gräberfeldern auf dem früheren Gebiet der Sowjetunion. Lediglich die Friedhöfe in Sologubowka bei St. Petersburg sowie in Smolensk, der erst 2013 im Beisein des deutschen Verteidigungsministers Thomas de Maizière feierlich eingeweiht wurde, gelten als größer. Der Friedhof von Smolensk sei ein "Prediger des Friedens", weil er künftigen Generationen sichtbar mache, welchen Preis Völker für den Krieg zahlen müssten, sagte der Minister damals. Ein halbes Jahr später besetzten russische Truppen die ukrainische Halbinsel Krim.

In Rossoschka wird anlässlich des 80. Jahrestages der Schlacht von Stalingrad nicht gepredigt. Die Feierlichkeiten beschränken sich auf die russischen Gedenkstätten. Den Umständen zum Trotz will der Volksbund am Wochenende dennoch eine kleine Abordnung mit Blumen nach Rossoschka schicken. Es wird ein stilles und einsames Gedenken werden.