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Gulag sticht Ikea

Von Ernst Trummer

Politik

Russlands Straflagersystem erinnern an den Archipel Gulag - und entwickelt sich zu einem boomenden Geschäftsmodell.


Am 12. August 2021 nahm Sergej Schoigu die offizielle Eröffnung der Sanierungsarbeiten an einem 340 Kilometer langen Teilabschnitt der Baikal-Amur-Magistrale (BAM), einem nördlichen Seitenstrang der Transsibirischen Eisenbahn, vor. Schoigu hatte auch damals schon sein heutiges Amt als russischer Verteidigungsminister inne, ein Eisenbahnprojekt fällt damit nicht unbedingt in seinen Aufgabenbereich. Dass sich der langjährige Vertraute von Präsident Wladimir Putin dennoch für den Schienenausbau interessiert, hängt vor allem damit zusammen, dass an der Sanierung der BAM auch Soldaten mitarbeiten.

Die russische Armee unterhält ein eigenes Kontingent an Eisenbahnpionieren, die für den Bau, die Reparatur und den Schutz von Schieneninfrastruktur ausgebildet sind und über die entsprechende technische Ausrüstung verfügen. In Friedenszeiten kommen diese Spezialkräfte vor allem dort zum Einsatz, wo die Arbeitsbedingungen so wie bei der BAM besonders herausfordernd sind, aber auch bei jenen Projekten, für die es nicht genug zivile Arbeitskräfte gibt. Im Fall der ostsibirischen Bahntrasse, die für den Kreml mit der Hinwendung zu China noch einmal wichtiger geworden ist, blieben in Folge der Corona-Pandemie vor allem die Arbeitsmigranten aus, das Rekrutierungsprogramm der russischen Eisenbahn RZhD stieß trotz überdurchschnittlicher Löhne und zahlreicher Vergünstigungen auf nur sehr geringe Resonanz.

Arbeitskräftemangel

Die Mobilmachung für den Krieg in der Ukraine, die seit Ende September vergangenen Jahres läuft, hat den chronischen Arbeitskräftemangel nun noch zusätzlich verschärft. So hat die RZhD schon im Herbst die Befürchtung geäußert, ihre Partnerfirmen auf den Baustellen könnten bis zu 60 Prozent ihrer Arbeitskräfte an die russische Armee verlieren - verbunden mit der Aufforderung an die Politik, hier entsprechend gegenzusteuern.

Ein halbes Jahr später scheint die RZhD eine Lösung für ihr Arbeitskräfteproblem gefunden zu haben. So gibt es mittlerweile zahlreiche Medienberichte, laut denen die Eisenbahnverwaltung auf den Baulosen ihrer Ostbahnstrecken auch auf Häftlinge zurückgreifen wird, die das Bundesamtes für Strafvollzug FSIN schickt. Die einzelnen Regionalableger der obersten Gefängnisverwaltung sollen dabei als Subauftragnehmer auf den Baustellen aushelfen oder als Personaldienstleister die erforderlichen Arbeitskräfte zur Verfügung stellen.

Spekulationen, dass der Kreml versucht sein könnte, für die Umsetzung großer Infrastrukturprojekte Anleihen am sowjetischen System der organisierten Zwangsarbeit zu nehmen, gibt es schon länger. So schufteten beim Bau der Baikal-Amur-Magistrale, die eines der größten Infrastrukturvorhaben der noch jungen Sowjetunion darstellte, insgesamt rund zwei Millionen Zwangsarbeiter. Für die Organisation und praktische Umsetzung der institutionalisierten Zwangsarbeit war mit der "BAMLag" sogar eine eigene Straflager-Verwaltung im landesweiten Gulag-System geschaffen worden.

Vom russischen Recht ist der aktuelle Zwangseinsatz von verurteilten Straftätern eindeutig gedeckt. "Die Arbeit der Verurteilten dient nicht dem Ziel, Gewinne zu erwirtschaften, sondern sie wird lediglich als Mittel betrachtet, die Häftlinge zu läutern und ihnen eine Beschäftigung und eine berufliche Ausbildung zu bieten", heißt es seitens des Bundesamts für Strafvollzug FSIN, das landesweit die Aufsicht über rund 650 Einrichtungen mit mehr als 130.000 zur Zwangsarbeit verpflichteten Häftlingen innehat. Außerdem könnten die Sträflinge durch das mit ihrer Arbeit verdiente Geld für den Schaden aufkommen, den sie durch ihre kriminellen Handlungen der Gesellschaft und ihren Opfern zugefügt hätten.

Weitaus mehr öffentliche Sichtbarkeit als beim Einsatz auf Megabaustellen in der sibirischen Einöde bekommt das russische Zwangsarbeitsregime freilich in den Segmenten Handwerk, Gewerbe und Dienstleistungen. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeitsleistung aus dem Strafvollzug und rein ziviler Wertschöpfung. Das zeigt sich besonders anschaulich bei den diversen landesweiten Ausstellungen und Jahrmärkten, auf denen die Regionalverwaltungen des FSIN ihre Erzeugnisse anbieten.

Satte Gewinne

In der Stadt Magadan beispielsweise, unweit des Polarkreises am Ochotskischen Meer, wurde Anfang Juli 2022 eine derartige Ausstellung mit Produkten aus den Werkstätten der regionalen Haftanstalten und Arbeitslager organisiert. Die Besucher konnten dabei aus einem umfangreichen Warensortiment wählen und sogar individuelle Bestellwünsche deponieren - in der Lokalpresse wurde danach vom regen Interesse an den "qualitativ hochwertigen und erschwinglichen Waren" berichtet.

Während in Magadan eine breite Palette an Waren angeboten wurde, konzentrieren sich die Straflager in der Oblast Swerdlowsk dagegen vor allem auf den Bereich Möbelbau, der nach Einschätzung der Regionalverwaltung großes Entwicklungspotenzial mit guten Gewinnaussichten besitzt. So meldete Aleksandr Lewtschenko, der Pressesprecher der Verwaltung, letzten Juli einen Erlös von umgerechnet fünf Millionen Euro aus der Möbelproduktion im ersten Halbjahr 2022, bei weiter stark steigenden Umsatzerwartungen. Gegenüber einer Lokalzeitung ließ sich FSIN-Funktionär Iwan Scharkow sogar zu der Prognose hinreißen, dass man schon bald den Platz des schwedischen Möbelgiganten Ikea einnehmen werde, der sich wegen des Ukraine-Kriegs aus Russland zurückgezogen hat. "Wenn wir die Möbel vergleichen, dann haben wir die bessere Qualität und die niedrigeren Preise", erklärte Scharkow selbstbewusst.

Auch Geschäftsleute und Funktionäre wie Anatolij Filippenko, Präsident des Regionalverbands für kleine und mittelständische Betriebe in der Oblast Swerdlowsk, wittern bereits das große Geschäft. Dem Wirtschaftsblatt "Kommersant" verriet Filippenko, dass die erstaunlich wertig produzierten Möbel an Zwischenhändler geliefert werden, von denen sie den Stempel "Made in Italy" verpasst bekommen, um dann schließlich um den doppelten Preis bei den Endverbrauchern zu landen.

Die von Sträflingen produzierten Waren können aber nicht nur vor Ort gekauft werden. Der Online-Katalog auf der Website des Bundesamts für Strafvollzug listet über 9.000 Einträge zu geschätzt rund eintausend verschiedenen Produkten auf - alle mit Foto und den entsprechenden Kontaktdaten zu der jeweiligen Haftanstalt, in der die betreffenden Artikel hergestellt werden.

Angeboten wird dabei eine breite Palette an unterschiedlichsten Waren: Nähereierzeugnisse und Textilien, landwirtschaftliche Produkte und Lebensmittel, Erzeugnisse aus der Metallverarbeitung und ein umfangreiches Möbelsortiment. Dazu noch Korbwaren, Sägewerks- und Hobelware, Brennholz, Holzkohle, Baumaterialien, PVC-Fenster und -Türen, Kunsthandwerk und schließlich Ausrüstungsgegenstände für das Militär wie Schlafsäcke, Stiefel, Mützen und Uniformen. Ein einträgliches Geschäft ist die Zwangsarbeit vor allem wegen der hohen Margen. Laut der Gefängnisverwaltung FSIN, die 2021 im Zusammenspiel mit verschiedenen Behörden sowie "außenstehenden Organisationen" einen Waren- und Dienstleistungsumsatz von umgerechnet 440 Millionen Euro erzielte, beträgt der Arbeitslohn der Häftlinge monatlich knapp 70 Euro - ein Zehntel des durchschnittlichen Monatslohns eines russischen Arbeitnehmers.

Enorme Korruption

Geht es nach dem Kreml, sollen die Umsätze und Gewinne der FSIN aber noch deutlich weiter zulegen. So hat die Regierung schon im April 2021 ein Reformkonzept für das Strafvollzugssystem ausgearbeitet, das unter anderem den Ausbau sogenannter Läuterungszentren vorsieht, in denen zehntausende Häftlinge zum Arbeitsdienst eingeteilt werden sollen. Gleichzeitig verhängen Gerichte schon jetzt immer häufiger Zwangsarbeit anstelle von Freiheitsstrafen.

Russische Menschrechtsaktivisten sehen die boomende Gefängniswirtschaft mit entsprechendem Argwohn. So geht Lew Ponomarjow, der nach der Auflösung seiner Organisation "Für Menschenrechte" im Jahr 2021 mittlerweile im Exil lebt, davon aus, dass sich die Behörden bei der Nutzbarmachung der Sträflingsarbeit nicht an die offiziellen Regeln halten werden. Gerade bei Großprojekten wie der Modernisierung der BAM, bei dem nach Jahren der Säumigkeit alles dem Erreichen der ambitionierten Ziele untergeordnet wird, werde kaum jemand so genau wissen wollen, ob die Rechte der Häftlinge auch wirklich gewahrt werden, sagte Ponomarjow dem Boulevardblatt "Moskowski Komsomolez". "Die Korruption ist schon in der Freiheit groß, aber hinter Gittern ist sie um ein Vielfaches größer."