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"Ohne neue Verfassung geht Krieg weiter"

Von Martyna Czarnowska

Politik
© czar

Türkischer Oppositioneller beklagt Rückschritte in Gesprächen mit Kurden.


"Wiener Zeitung":Eine "demokratische Öffnung" für die Kurden in der Türkei versprach Premier Recep Tayyip Erdogan vor fast drei Jahren. Die Gefechte zwischen der türkischen Armee und der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) sind derzeit aber wieder heftiger als zuvor. Ist die Türkei von einer demokratischen Lösung des Kurdenkonflikts weiter entfernt als vor drei Jahren?

Ertugrul Kürkcü: Sie ist weiter davon entfernt als noch vor einem Jahr. Die türkische Regierung ist nämlich nun der Meinung, dass die PKK zuerst militärisch bekämpft werden sollte, bevor es Verhandlungen mit den Kurden gibt. Zuvor hat die PKK selbst als Gesprächspartner gegolten. Es ist wie ein Rückschritt in die 90er-Jahre: Die Regierung sagt, es gibt kein Kurdenproblem, sondern lediglich einige Bürger mit kurdischem Hintergrund, die Probleme haben.

Doch müssten beide Seiten nach jahrzehntelangen Kämpfen wissen, dass militärische Maßnahmen keine Lösung bringen. Warum also der neuerliche Gewaltausbruch?

Da können wir nur spekulieren. Weder die Regierung noch die PKK hat öffentlich gemacht, wie ihre Gespräche bisher verlaufen und woran sie gescheitert sind. Es könnte sein, dass beide Seiten den arabischen Frühling überschätzt haben, von dem sie sich Antrieb für eigene Interessen erhofft hatten. Die türkische Regierung hat auf engere Kooperation mit den arabischen Staaten im gemeinsamen Vorgehen gegen die PKK gesetzt. Und die PKK hat umgekehrt gehofft, dass die Demokratisierungsbewegungen auch die Rechte und die Position der Kurden in der gesamten Region stärken.

Wie soll es nun gelingen, wieder einen Dialog aufzunehmen?

Die Regierung muss einsehen, dass eine militärische Option keine Option ist. Doch hat sie auch andere Hürden zu überwinden. Im letzten Wahlkampf hat sie nämlich verstärkt um die Stimmen der türkischen Rechten geworben, mit nationalistischer Rhetorik und nationalistischen Forderungen. Das ist mit einer Öffnung gegenüber den Kurden kaum zu vereinbaren.

Was kann da die kleine oppositionelle Fraktion BDP ausrichten, der türkische Nationalisten noch dazu vorwerfen, sie arbeite mit kurdischen Terroristen zusammen?

Die Regierung will mit uns reden und doch auch wieder nicht. Sie wünscht sich eine moderate Opposition, keine fordernde. Doch mit wem sonst soll sie über eine Lösung des Kurdenproblems verhandeln? Und die Attacken der PKK auf Zivilisten haben wir immer wieder kritisiert. Doch damit ist es nicht getan. Ein Entgegenkommen der Regierung ist nötig.

Ein Schritt dazu wäre eine neue, demokratischere Verfassung.

Die ist eine Bedingung. Wenn die Regierung einen Vorschlag zur Änderung der Verfassung machen würde, die auf Bürgerrechten basiert und ohne ethnische Diskriminierung - also Betonung des Türkentums - auskommt, wäre das ein grundlegender Schritt, um das Vertrauen zwischen den Volksgruppen wieder aufzubauen. Etwas anderes würden die Kurden nicht akzeptieren, und auch der Krieg würde fortgesetzt.

Die Debatte um die Verfassung währt nun auch schon seit Jahren. Wo bleiben die Fortschritte?

Es hat schon Gesetzesentwürfe gegeben, aber mit ihrer nationalistischen Agenda hat es die Regierung nun schwieriger, allen Forderungen zu begegnen. Sie gibt zwar vor, eine breit angelegte öffentliche Debatte führen zu wollen, aber gleichzeitig deklariert sie, die Arbeiten an der Verfassung innerhalb von neun Monaten abschließen zu wollen. Das ist eine zu kurze Zeit für eine umfassende Diskussion. Nicht einmal im Parlament hören sich Regierungsvertreter die Meinung anderer an, weil sie nicht immer dort auftauchen. Vieles spielt sich hinter verschlossenen Türen ab.

Das klingt nicht nach mehr Demokratisierung. Wird die Türkei immer autoritärer?

Es hat Verbesserungen in dem Land gegeben. Doch die allein regierende Partei AKP nutzt sie nun zu ihrem Vorteil. Früher haben wir uns beklagt, dass die Justiz von der Armee kontrolliert wird. Nun hat die Regierung die Armee unter ihre Kontrolle gebracht - aber auch die Justiz. Die Politik hat immer mehr Einfluss auf immer mehr Bereiche, etwa auf Universitäten, Medien, Ständevertretungen. Selbst Fußballklubs, die große gesellschaftliche Unterstützung haben, geraten unter politischen Druck. In einer Demokratie sollte die Macht verteilt sein. In der Türkei ist sie zu konzentriert, in den Händen eines Mannes: Premier Erdogan.

Ertugrul Kürkcü

Der türkische Sozialist und Autor (63) war ein Aktivist der 68er-Bewegung und Mitbegründer der Untergrundorganisation der Türkischen Volksbefreiungspartei-Front. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis 1986 wurde er wieder politisch aktiv. Als Unabhängiger trat er zur Wahl im Juni an und schloss sich im Parlament der prokurdischen Fraktion BDP an.