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"Proteste zeigen der Regierung ihre Grenzen auf"

Von Klaus Huhold

Politik

Laut Politanalyst Günay können Demos Demokratisierung in Türkei vorantreiben.


"Wiener Zeitung": Werden die Proteste politisch überhaupt etwas ändern? Die AKP von Premier Recep Tayyip Erdogan hat ja eine absolute Mehrheit.Cengiz Günay: Die parlamentarische Opposition ist durch die Demonstrationen nicht gestärkt, es gibt hier auch keine tragfähige Alternative zur AKP. Die Protestbewegung wiederum kann ihre Kraft nicht in eine politische Partei umwandeln. Dafür haben aber die Proteste gezeigt, dass es in der Türkei Grenzen für die Regierung gibt, wie weit sie ihre Gewalt ausüben kann. Dass sie Minderheiten und die Zivilgesellschaft nicht einfach beiseite schieben kann. Wir beobachten eine wichtige Phase im Demokratisierungsprozess der Türkei. Zum ersten Mal greifen nicht undemokratische Kräfte wie das Militär ein, wenn der politische Prozess aus dem Lot gerät, sondern die Zivilgesellschaft zeigt auf.

Könnten die Proteste Anlass sein für das Militär oder Teile der Justiz, die Erdogan entmachtet sehen wollen, auf den politischen Zug erneut aufzuspringen?

Sie sind wohl für längere Zeit aus dem Spiel genommen. Das ist auch eines der Probleme im zentralistischen türkischen System. So undemokratisch das Militär und die kemalistische Justiz auch waren, sie haben ein Gegengewicht zur Regierung dargestellt. Doch seitdem die AKP sämtliche Ebenen des Staates besetzt, gibt es keine Institutionen mit einem Gewicht, die ihr entgegenstehen.


Ist aber die AKP selbst überhaupt eine Einheit?

Nein, das ist sie sicher nicht. Aber das System ist so auf Erdogan ausgerichtet, dass es niemand wagt, in Opposition zu ihm zu gehen. Er besitzt offensichtlich eine autoritäre Persönlichkeit, und es gibt eine Art Selbstzensur in der Partei.

Einerseits zeigt sich bei den Protesten Wut über Erdogan, andererseits gewinnt die AKP die Wahlen immer deutlich. Wer wählt sie?

Eine große Gruppe von Menschen knüpft ihre Hoffnungen an den wirtschaftlichen Aufschwung, der der AKP zugeschrieben wird. Zudem fühlten sich viele Türken von der Gesellschaft ausgeschlossen - aufgrund ihres Lebensstils, ihres Glaubens oder ihrer Kleidung. Erdogan verstand es sehr geschickt, die Partei als Vertretung der Underdogs, die von den alten kemalistischen Eliten unterdrückt wurden, zu verkaufen. Das stimmte ja am Anfang auch. Aber mittlerweile ist die AKP in ihrer dritten Legislaturperiode und hat selbst ihre Macht stark konsolidiert.

Cengiz Günay ist Mitarbeiter am Österreichischen Institut für Internationale Politik, wobei die politischen Prozesse in der Türkei seit Jahren zu seinen Schwerpunkten zählen.