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"Die Stimmung ist umgeschlagen"

Von Gerhard Lechner

Politik

Janukowitsch hat es geschafft, selbst in seinen Hochburgen für Protest zu sorgen.


Lemberg/Wien. Der ukrainische Historiker Jaroslaw Hryzak hat bereits vor zwei Jahren in einem Interview mit der "Wiener Zeitung" eine "neue Revolution" in seinem Land angekündigt. Nun äußert er sich über die aktuellen Entwicklungen in der Ukraine.

"Wiener Zeitung":Herr Hryzak, die Ereignisse in der Ukraine haben sich überschlagen. In den Provinzen rumort es, im Zentrum von Kiew sind die Demonstranten auf dem Vormarsch. Kann sich Präsident Wiktor Janukowitsch noch lange im Sessel halten?

Jaroslaw Hryzak: Die Situation ist total unvorhersehbar geworden. Sie ist außer Kontrolle geraten. Das ist für die Opposition zwar auch nicht gerade optimal, aber besonders schlecht ist es für Janukowitsch. Er verliert jeden Tag an Unterstützung. Die kommenden Tage und Nächte könnten entscheidend sein.

Hat Janukowitsch nicht eine stabile Unterstützung im russischsprachigen Süden und Osten des Landes?

Prinzipiell ja. Seit Rating liegt meist bei rund 20 Prozent - also vor dem seiner Konkurrenten. Vor einem Jahr, vor zwei Jahren hätte das noch genügt, um an der Macht zu bleiben.

Und jetzt nicht mehr?

Die Stimmung ist umgeschlagen. Die Frage, die die Emotionen hochkochen lässt und die das Land teilt, ist dabei nicht die EU-Integration. Natürlich ist die den Menschen im Süden und Osten weniger wichtig als im Zentrum und im Westen, aber sie tragen sie mit. Die Frage, die das Land wirklich teilt, ist der Umgang mit Russland. Soll die Ukraine Teil einer russisch dominierten Struktur wie der Zollunion sein, sollen wir Geld aus Moskau annehmen?

Diese Streitfrage ist allerdings prinzipiell nichts Neues. Woran lässt sich denn erkennen, dass die Stimmung gegen den Präsidenten umgeschlagen hat?

Daran, dass Janukowitsch jetzt auch im Süden und Osten an Unterstützung verliert, also dort, wo er seine Hausmacht hat. Es gibt jetzt sogar Proteste in Städten wie Charkiw, Dnipopetrowsk und Odessa. Die Zahl der Demonstranten ist dort erstaunlich hoch. Das ist für diese Städte eine komplett neue Entwicklung - früher gab’s Proteste gegen Janukowitsch nur im Westen und im Zentrum, also dort, wo etwa auch die Orange Revolution Erfolg hatte. Jetzt greift der Protest darüber hinaus.

Warum passiert das? Sind die Süd- und Ostukrainer von Janukowitsch so enttäuscht?

Da spielen mehrere Dinge eine Rolle. Erstens hat der Präsident mit seiner ineffizienten Wirtschaftspolitik viele Wähler vergrault. Zweitens - der Ausdruck klingt vielleicht brüsk, aber man kann ihn verwenden - stört die Menschen der mafiöse Charakter seiner Politik. Man spricht in der Ukraine von der "Bande", wenn man an Janukowitsch und seine Leute denkt.

Diese Ausdrücke gibt es aber auch schon länger.

Das ist richtig, aber irgend einmal läuft das Fass halt über. Die Menschen fühlen sich jetzt unmittelbar von der Führung herausgefordert - nach den Gesetzen vom 16. Jänner, die die Bürgerrechte massiv einschränkten, und nach den Erschießungen im Zentrum von Kiew. Auch das Entführen und Foltern von Menschen hat für große Aufregung gesorgt. Die Ukraine ist zwar in vielerlei Hinsicht geteilt, aber eines eint alle: das Bedürfnis nach Sicherheit. Genau dieses Bedürfnis hat Janukowitsch verletzt. Als die ersten Meldungen über Entführungen eintrafen, haben die Leute verstanden: Jeder könnte ein Opfer sein.

Weiß man, wer hinter den Entführungen steckt?

Offiziell übernimmt niemand die Verantwortung. Aber man kann davon ausgehen, dass es Sondertruppen waren oder mit ihnen eng kooperierende Schlägerbanden. Manche dieser Aktionen wurden ja auch auf Film festgehalten. Ein Mann musste sich ausziehen, hinknien und die Nationalhymne singen. Die Täter waren so zynisch, dass sie solche Filme selbst auf die Internetplattform Youtube stellten. Das hat die Demonstranten natürlich noch mehr herausgefordert.

Wie kann es jetzt weitergehen?

Im Prinzip ist die Situation in Kiew entscheidend. Janukowitsch hat dort nur wenig Unterstützung, weshalb er seine Sondertruppen in die Hauptstadt beordert hat. Die fehlen ihm jetzt aber in den Regionen, wo die Verwaltungsgebäude besetzt werden. Die Situation ist absolut unvorhersehbar geworden.

Was sind für Janukowitsch die größten Gefahren?

Eher nicht die Politiker der Opposition, deren Bedeutung oft überschätzt wird. Entscheidender ist, was im Zentrum Kiews rund um den Maidan passiert. Die Leute dort akzeptieren nach dem, was passiert ist, nur noch eine Absetzung Janukowitschs. Dann wären da noch die Oligarchen, Leute wie Rinat Achmetow. Wenn sich die Oligarchen gegen den Präsidenten stellen, wird es eng für ihn.

Jaroslaw Hryzak (54) gilt als einer der bedeutendsten Historiker der Ukraine. Der Lemberger hat mehrere Standardwerke über sein Land verfasst.

  • Jaroslaw Hryzak im Interview 2012