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Der Einflüsterer

Von Gerhard Lechner

Politik

Der russische Soziologe Dugin soll Stichwortgeber für die Politik Putins sein.


Alexandrow/Kiew. Der Ort ist abgeschieden und beschaulich. Etwas mehr als 60.000 Menschen leben in Alexandrow, einer russischen Kleinstadt nordöstlich von Moskau. Die verschlafene Stadt im Grünen hat nicht allzu viel zu bieten - bis auf einen kleinen, weißgetünchten Palastkomplex, in dem sich heute ein Frauenkloster befindet. Doch das Gebäude zieht genügend Besucher an: Von hier, von der "Alexandrowskaja Sloboda" aus, hatte Zar Iwan IV. der Schreckliche im 16. Jahrhundert seine blutige Umgestaltung Russlands geleitet. Hier hatte er seine "Opritschniki" losgeschickt, jene schwarzgewandeten Reiter, die, erkennbar durch einen Hundekopf am Sattel und einen nachgeschleiften Besen, bei Fürsten wie einfacher Bevölkerung Angst und Schrecken verbreiteten.

2005 besuchte eine illustre Gruppe die Sloboda: Mehr als 400 junge Menschen drängten sich in den nicht allzu großen Thronsaal Iwans, um einen "Eurasischen Jugendverband" zu gründen - die Jugendorganisation der "Internationalen Eurasischen Bewegung" des Alexander Dugin. Dugin gilt als das Haupt des sogenannten "Neo-Eurasismus" in Russland. Pawel Sarifullin, der Koordinator des Verbandes, erklärte den brutalen Zaren zum "formellen Chef" des Jugendverbandes und zum "Haupteurasier seiner Epoche". Den Abschlussvortrag hielt Dugin - über die "Metaphysik der Opritschnina", die Symbolik der Hundsköpfe und die "Soziologie der Zwangsmaßnahmen, der Repressalien".

Der 52-Jährige spielt in Russlands politischer Szene eine immer wichtigere Rolle. Manche munkeln gar, der Chef-Eurasier sei der große Inspirator der Politik von Staatschef Wladimir Putin. Immerhin hatte dieser für 2015 die Gründung einer "Eurasischen Union" angesetzt, was ganz nach Dugin klingt. Auch die Ausführungen Putins bei seiner jüngsten Pressekonferenz - dass Russland ein Europa von Lissabon bis Wladiwostok wolle, dass der Mensch der "Russischen Welt" nicht nur, wie im Westen, für sich da sei, sondern auch für die Gemeinschaft - klangen, als hätte Dugin ihm das Skript verfasst. Der Moskauer, der seine Rhetorik in den letzten Jahren mäßigte, hat sich zu einem gefragten politischen Analytiker gemausert, der über Zugang zu höchsten Regierungs- und Parlamentskreisen verfügen soll.

In den 1990er Jahren war das noch anders. Dugin war damals eine Figur am rechten Rand des politischen Spektrums. Er betätigte sich kurzzeitig in der nationalistischen Pamjat-Bewegung und schrieb Artikel, in denen er das Aufkommen eines "authentischen, realen, radikalen, revolutionären und konsequenten, eines faschistischen Faschismus" für Russland herbeisehnte. 1998 gründete er gemeinsam mit dem Schriftsteller Eduard Limonow die Nationalbolschewistische Partei. Deren Flagge erinnert an eine kommunistische Ausgabe der Flagge des Dritten Reiches: ein weißer Kreis in einer roten Fahne, darauf in Schwarz statt des Hakenkreuzes Hammer und Sichel. Später überwarf sich Dugin mit Limonow, verließ mit seinen Eurasiern die "Nazboly" und gründete seine Eurasische Bewegung. Limonows Anhänger hatten bei den letzten Protesten gegen Putin vor seiner Wiederwahl zum russischen Präsidenten 2012 trotz ihrer imperialistischen Ideologie die Speerspitze der Anti-Putin-Proteste gebildet. Dugins Eurasier unterstützten die Politik des Präsidenten.

"Neurussland" vor der Tür

Das war 2005, bei der Gründung des Jugendverbandes, noch anders. Damals, unmittelbar nach dem Schock durch die prowestliche Orange Revolution in Kiew, überwog bei Dugin noch tiefer Pessimismus: "Unserer Heimat droht Gefahr", referierte er in Alexandrow. "Es droht uns die unipolare Welt. Dagegen muss man kämpfen. Auf den Staat zu hoffen, ist sinnlos. Die heutige Führung hat die Ukraine verloren, hat Georgien verloren, sie verliert Einfluss im postsowjetischen Raum. Sie kann unsere Interessen im Konflikt mit dem Westen nicht verteidigen. Mit den letzten Wirtschaftsreformen hat die Führung außerdem noch die Unterstützung in der Bevölkerung verspielt".

Neun Jahre später hat sich Dugins Pessimismus verflüchtigt: In seinem Aufsatz "Horizonte unserer Revolution von der Krim bis Lissabon" vom 7. März heißt es: "Wir werden uns nicht mit der Annexion der Krim zufrieden geben. Das ist sicher." Die Leute im Südosten der Ukraine würden aufwachen. Dugin spricht von einem neuen Staat, einem "Neurussland", das vor allem auch die Fehler der russischen und ukrainischen 1990er Jahre - Stichwort: Oligarchie - vermeiden soll. Es ginge um die "Wiedervereinigung des slawischen Volkes". Dabei soll es jedoch nicht bleiben: "Das Ziel des vollen Eurasianismus ist ein Europa von Lissabon bis Wladiwostok", schreibt Dugin. Sein Endziel: "Das große Eurasische Kontinentalreich. Wir werden es aufbauen. Die Europäische Revolution wird die Eurasische Revolution sein."

Dugins Vorstellung eines Kontinentaleuropas von Wladiwostok bis Lissabon ist neu. Der traditionelle Eurasismus, der in den 1920er Jahren von russischen Exilanten wie Nikolai Trubezkoj oder Pjotr Sawizki ausformuliert wurde, hatte einen Gegensatz zur "germano-romanischen Welt" angenommen und bei den Karpaten geendet. Dugins Neo-Eurasismus tritt hingegen gegen die angelsächsische Welt an. Nach seinem Konzept befinden sich Russland und die USA in einem ständigen, naturgegebenen Ringen um Europa. Die Ideen für sein Konzept hat der extrem umtriebige Dugin, der heute eine prestigeträchtige Professur für Soziologie an der Staatlichen Universität Moskau innehat, in Russland übrigens erst einführen müssen: Er stützt sich vor allem auf den Vater der Geopolitik, den Briten Halford Mackinder.

Anleihen bei Mackinder

Mackinder, ein Geograph, hatte 1904 in einer Schrift seine "Herzland"-Theorie formuliert, die besagt, dass die Beherrschung des Kernlandes Eurasiens der Schlüssel zur Weltherrschaft sei. Dabei komme der Macht, die dieses "Herzland" besitzt - eben Russland - ein entscheidender Vorteil zu. Das damals weltbeherrschende Großbritannien müsse also das Aufkommen eines solchen Rivalen verhindern. Dugin nimmt an, dass sich die damalige britische und die heutige US-Politik decken. Schließlich hatte auch der einflussreiche Ex-Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, in seinem Buch "The grand chessboard", das in den 1990er Jahren erschienen ist, sich auf Mackinder bezogen und Eurasien eine Schlüsselstellung eingeräumt.

Das Heranrücken der US-gelenkten Nato an die russische Grenze, das Aufstellen eines Nato-Raketenschildes rund um Russland, die offensive Unterstützung "farbiger Revolutionen" in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, schließlich der Umsturz in der Ukraine haben in Moskau die Ansicht verfestigt, dass der "Feind vor der Tür" steht, wie es in dem Film eines kremlnahen Sicherheitsinstituts heißt. Dugin bezeichnet die USA in seinen zahlreichen Interviews jedenfalls als solchen. "Wir befinden uns im Krieg", sagte er kürzlich im TV. "Mit wem?" - "Mit den USA!"

Hauptfeind Liberalismus

Dugins Krieg hat allerdings auch ein ideologisches Unterfutter. Sein Hauptfeind ist der Liberalismus - und den sieht er in der Politik der Angelsachsen beispielhaft verkörpert. Deren Zivilisation sei eine maritime, merkantile Zivilisation von Handelsleuten, universalistisch, kolonialistisch, materialistisch, ohne Geist. Sie löse alle traditionellen Bindungen, Familie, Staat, Nation, jede kollektive Identität auf. Diesem Liberalismus setzt er seinen eurasischen Menschen entgegen. Ihn bewegen Ideen. Orthodoxer Russe muss er nicht sein - Dugin setzt auf eine Allianz aller Eurasier gegen die Atlantiker. Franzosen und Deutschen billigt Dugin dabei eine eher eurasische Identität zu. Sie sollten von der gegenwärtigen Überformung durch das US-Konzept befreit und wieder zu ihrer eigentlichen Identität zurückgeführt werden.

Es ist unverkennbar, dass Dugin dabei auch Anleihen bei der deutschen "Konservativen Revolution" der 1920er Jahre nimmt, die sich vom merkantilen, liberalen Westen abgrenzte, der westlichen "Zivilisation" die deutsche "Kultur" entgegensetzte und auf ein Bündnis mit der damaligen Sowjetunion hinarbeitete. Der deutsche Nationalbolschewik Ernst Niekisch, der von Hitler verfolgt wurde, gilt als einer der Inspirateure Dugins.

Wie viel von Dugin in Putin steckt, ist aber trotz des auffälligen Schwenks Putins ins Konservative nicht klar. Zwar sind Anhänger Dugins wie der Ex-Journalist Iwan Demidow zu hohen Posten aufgestiegen. Er war Ideologiesekretär für die Kreml-Partei "Einiges Russland", verantwortlich für deren Jugendorganisation "Junge Garde" und arbeitet heute im Präsidialamt. Andererseits sendet Putin nach wie vor Signale in verschiedene Richtungen aus, indem er beispielsweise Pjotr Stolypin, einen Agrarreformer der ausgehenden Zarenzeit, demonstrativ ehrt. Nicht wenige Beobachter halten Putins Ideologieoffensive nur für das Machtkalkül eines typischen KGB-Mannes - zum Aufbau russischer "Soft power" in der muslimischen Welt, in Asien, der Dritten Welt und bei Europas Konservativen.