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Massaker an Bord

Von WZ-Korrespondent Julius Müller-Meiningen

Politik

Beim jüngsten Flüchtlingsdrama im Mittelmeer starben offenbar 181 Menschen unter grausamen Umständen.


Rom. Wenn es zutrifft, was die Überlebenden berichten, dann ist der Fall an Grausamkeit kaum zu überbieten. Mehr als 180 Flüchtlinge sollen bei einem der jüngsten Unglücke im Mittelmeer ums Leben gekommen sein. Als das völlig überfüllte Holzboot am Samstag von einem dänischen Handelsschiff entdeckt wurde, war zunächst von 30 Toten die Rede gewesen, die entweder ertranken oder an den Abgasen im Bauch des Schiffes erstickten. Nach der Ankunft der Überlebenden in der sizilianischen Stadt Messina prüft nun auch die Staatsanwaltschaft die Ereignisse an Bord: Auf dem Flüchtlingsboot soll es zu einem Massaker gekommen sein, bei dem Dutzende Menschen ums Leben kamen.

Einige der dramatischen Szenen sind in Kurzfilmen zu sehen, die bei der Rettung des Boots etwa 150 Kilometer vor der Insel Lampedusa aufgenommen wurden. Die Zeitung "La Repubblica" hat sie auf ihre Internetseite gestellt. Zu sehen ist dort ein baufälliger, überfüllter Fischkutter in extremer Schräglage, auf dem hunderte Menschen um Hilfe rufen. Einige Flüchtlinge springen ins Wasser. Auf einem zweiten Video berichten Überlebende aus Pakistan und Syrien über die Fahrt. Von den etwa 750 Passagieren hätten 181 Menschen die Überfahrt nicht überlebt, behauptet ein Augenzeuge. Laut italienischer Behörden gingen 568 Migranten in Messina von Bord. Unter den Opfern sollen auch Frauen und Kinder gewesen sein.

"La Repubblica" zitiert einen 40-jährigen Syrer mit folgenden Worten: "Viele, die im Schiffsbauch waren, allesamt Schwarze, sind erstochen worden von anderen Schwarzen, die nicht wollten, dass sie an Deck kamen, wo kein Platz mehr war." Jeder Zentimeter des Schiffs sei voller Menschen gewesen, die wie Tiere gestapelt worden seien. "Einer über dem anderen, darunter auch viele Kinder." Auch der "Corriere della Sera" berichtet von dem Massaker, bei dem "dutzende Flüchtlinge" während der Überfahrt aus "Platznot" getötet worden seien. Die Täter hätten "sehr viele Passagiere über Bord geworfen und sich der Leichen der mit Messerstichen oder Schlägen Getöteten entledigt". Laut "Corriere della Sera" wird gegen fünf Schlepper, darunter drei Tunesier, ermittelt. Nach Darstellung der Zeitung sind sie möglicherweise für die Taten verantwortlich.

Immer wieder gibt es Berichte darüber, dass an Bord der Flüchtlingskähne eine regelrechte Klassengesellschaft herrscht. Die Schlepper verkaufen Plätze im Schiffsbauch, der sich oft als tödliche Falle erweist, für 600 bis 900 Euro - fast immer an Afrikaner. Noch teurere Plätze an Deck können sich meist nur wohlhabendere Flüchtlinge, etwa aus Syrien, leisten.

Unterdessen reißt der Flüchtlings-Zustrom nach Italien nicht ab. Allein 6000 Migranten landeten in der vergangenen Woche in Süditalien. Für Mittwoch wird in Taranto, Apulien, ein Schiff mit über 1100 Flüchtlingen erwartet. Nach Angaben des italienischen Innenministeriums sind seit Beginn des Jahres etwa 85.000 Flüchtlinge über das Meer nach Italien gelangt, darunter vor allem Menschen aus Eritrea, Somalia und Syrien. Damit liegt die Zahl schon jetzt deutlich höher als im bisherigen Rekordjahr 2011, als bedingt durch die Umwälzungen des Arabischen Frühlings 62.000 Flüchtlinge übers Mittelmeer kamen. Der Anstieg ist auch in Österreich zu bemerken, die Zahl der Asylanträge nahm im ersten Halbjahr 2014 um 1,9 Prozent auf 8396 zu.

Nach wie vor haben sich die 28 EU-Staaten auf keine gemeinsame Linie für den Umgang mit dem Zustrom geeinigt. Der neue EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte bei seiner Wahl eine gemeinsame Asylpolitik angemahnt, mit der Möglichkeit legaler Einwanderung und einer Quotenregelung, die etwa Deutschland bislang aber ablehnt. Italien hatte nach dem Tod von etwa 350 Flüchtlingen im Oktober 2013 vor Lampedusa die humanitäre Operation "Mare Nostrum" gestartet. Die Marine kommt seither den seeuntüchtigen Flüchtlingsbooten entgegen und liest die Menschen bereits in der Nähe der libyschen Küste auf.