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"Die EU braucht die Türkei"

Von Teresa Reiter

Politik
Politologin Pinar Ipek zweifelt, dass Erdogan Schaden an türkischer Wirtschaft riskieren würde.
© Reiter

Die türkische Außenpolitik-Expertin Pinar Ipek über die Relevanz der Türkei für den europäischen Energiemarkt.


"Wiener Zeitung": Im Zuge der Ukraine-Krise verändern sich in Europa Hierarchien und Abhängigkeiten, was den Energiesektor betrifft. Wie würden Sie die Rolle der Türkei bewerten?Pinar Ipek: Eine Pluralisierung des europäischen Energiemarkts ist mehr denn je im Interesse der EU. Der Wunsch nach Sicherheit bei Energieimporten vergrößert die Rolle der Türkei. Zwar gab es in Europa schon früher Krisen auf diesem Gebiet, doch ist ein bewaffneter Konflikt in der Ukraine noch einmal etwas anderes. Das vergrößert den politischen Handlungsbedarf, eine Diversifizierung bei den Energiezulieferern voranzutreiben.

Sehen Sie darin eine Chance für die Türkei, ihren Einfluss in Europa zu vergrößern?Immerhin laufen in der Türkei Pipelines aus allen Himmelsrichtungen zusammen.

Ich glaube es wird die Beziehung zwischen EU und Türkei ein wenig voranbringen, jedoch wird es uns nicht die EU-Mitgliedschaft bescheren. Es gibt zu viele innenpolitische Probleme, die dem im Wege stehen. Aber Energie kann ein Brückenbauer für die Türkei sein. Damit die EU ihre Energiequellen diversifizieren kann, braucht es riesige Infrastrukturinvestitionen. Das schafft eine Gruppe von zwei oder drei Industrieländern nicht alleine, weil die Marktgröße eine solche Investition nicht rechtfertigt. Die Türkei kann für ein solches Projekt entscheidend sein, denn die essenziellen Kriterien für Energieimporte sind für die Türkei und die EU dieselben: Die Energie muss leicht zugänglich sein, die Versorgung verlässlich, sie muss leistbar sein und Produktion und Transport sollten möglichst umweltfreundlich sein. Besonders für die Verlässlichkeit und Leistbarkeit braucht man einen gemeinsamen regionalen Fokus mit der Türkei. Egal, was auf innenpolitischer Ebene passiert, die Türkei ist bereits jetzt stark mit dem europäischen Markt verflochten und gilt als verlässliche Transitroute.

Die EU macht gerade schlechte Erfahrungen mit dem autokratischen Führungsstil des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Könnten die antidemokratischen Vorstöße des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan die EU von einer noch engeren Zusammenarbeit mit der Türkei abschrecken?

Das glaube ich überhaupt nicht. Die EU ist unser wichtigster Handelspartner. Die Industrie exportiert großteils dorthin. Solche Beziehungen hat man nicht mit Russland oder anderen Energieanbietern. Erdogan mag autokratischer und populistischer werden und gegen die EU wettern, aber das ist nur, um seine Politik zu legitimieren und nationalistische Wählergruppen zu bedienen. Diese Regierung hat sich eigentlich völlig den Prinzipien des Marktes verschrieben. Wenn sie dem türkischen Markt in irgendeiner Weise schaden würde, verlöre sie an Zustimmung, denn die Türkei kämpft ständig mit einem Defizit. Russland ist nicht so sehr von der EU abhängig. Sogar die Briten halten sich bei den Sanktionen gegen Russland zurück, denn in ihren Banken liegt viel russisches Geld. Die Türkei ist hier in einer völlig anderen Situation.

Ahmet Davutoglu, der Erdogan nun ins Amt des Premierministers folgen soll, war bisher Außenminister der Türkei. Wie beurteilen sie seine Leistung in diesem Amt?

Speziell in frühen Interviews, formulierte er oft sehr positive und wünschenswerte Dinge für die türkische Außenpolitik. Aber auf Handlungsebene hat er sich zu sehr auf Soft Power verlassen. Denn wenn Soft Power nicht zusammen mit wirtschaftlichem Einfluss kommt, kann dieses Konzept illusionär sein. Das war sein Fehler.

Der kurdische Kandidat Selahattin Demirtas hat bei den Präsidentschaftswahlen mehr Stimmen bekommen, als irgendjemand erwartet hat. Was bedeutet das für die türkischen Kurden?

Ich glaube, dass Demirtas’ Erfolg eine der positivsten Entwicklungen in der türkischen Politik ist. Seine Partei hat den Diskurs verändert, weg von rein kurdischen Problemen, hin zu tiefer gehenden Problemen, wie etwa den Umgang der Türkei mit der Demokratie auf verschiedenen politischen Ebenen. Sie hat gezeigt, dass ethnische Konflikte auf lokaler Ebene ein Problem sind, das alle Einwohner der Türkei betrifft. Auf diese Weise erhielt sie mehr Stimmen aus anderen städtischen Gegenden. Demirtas Haltung könnte auch die Angst der türkischen Mehrheitsbevölkerung vor separatistischen Tendenzen der Kurden lindern.

Erdogan pflegt auch seine Beziehung zum irakischen Kurdenführer Massud Barsani seit einiger Zeit, wohl mit dem Hintergedanken, dass eine kurdische Pufferzone zwischen dem Terrornetzwerk IS und der türkischen Grenze ein großer Vorteil für sein Land wäre. Sehen Sie eine Chance für das Entstehen eines kurdischen Staats?

Im Moment nicht. Ich glaube die Einheit des Irak ist für das Land momentan wichtiger als die Autonomiebestrebungen der Kurden. Jede politische Schwäche und jedes Machtvakuum im Irak oder in Syrien stärkt radikale Gruppen. Die IS ist aus dem Führungsvakuum in der Region geboren worden. Ich glaube die irakische Regierung und die irakischen Kurden verstehen, dass sie einander brauchen. Doch die nächste Herausforderung für beide ist es, zu einem Konsens zu kommen, wie die Ölerträge aus dem Irak aufgeteilt werden sollen. Wenn das schon früher gelungen wäre, gäbe es vielleicht keinen IS im Irak. Ich glaube, sie haben eine wichtige Lektion gelernt.

Barsanis Rhetorik ist dennoch eine andere...

Er mag viel vom Wunsch der Kurden nach einem eigenen Staat sprechen, aber wenn die Ölfrage geklärt wäre, würde vielleicht
niemand mehr Angst vor einem kurdischen Staat haben. Die Idee findet deshalb so viele Gegner, weil eine solche Entwicklung wahrscheinlich eher zu mehr Konflikten führen würde, als irgendjemandem Frieden zu schenken. Für die Unabhängigkeit brauchen die Kurden die Ölerträge. Doch bei dem gegenwärtigen Chaos und der Gewalt in der Region können sie davon nicht profitieren. Daher ist auch für sie die Einheit des Iraks gegenwärtig wichtiger. Langfristig wird der Wunsch nach einem kurdischen Staat wohl nicht verstummen. Wenn jedoch bis dahin Konflikte und Ängste vor Gewalt und politischer Instabilität versiegen, dann hätte vielleicht niemand etwas dagegen.

Zur Person

Pinar Ipek

ist Professorin für Internationale Beziehungen an der Bilkent Universität in Ankara.

Die "Wiener Zeitung" sprach
mit ihr im Rahmen des Europäischen Forum Alpbach.