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Schottland steht vor historischer Zäsur

Von Michael Schmölzer aus Edinburgh

Politik

Die Schotten stimmen über ihre Unabhängigkeit ab. Es wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Herzschlag-Finish.|Die Frauen könnten dabei der entscheidende Faktor sein.


Edinburgh. Grau in grau ist der Himmel über den Straßen von Edinburgh am Tag, an dem die Entscheidung fällt. Es geht darum, ob die Schotten einen Schlussstrich unter 307 Jahre United Kingdom ziehen oder nicht. Bis zur letzten Sekunde hagelt es Appelle aus London, das Band nicht mutwillig zu zerreißen und an die gemeinsamen Erfolge zu denken.

Bis zuletzt machen Schottlands Nationalisten rund um den Chef der Scottish National Party (SNP), Alexander Salmond, klar, dass die historische Chance auf ein freies, unabhängiges, stolzes Schottland genutzt werden müsse. Bis zuletzt ist unklar, wer am Freitagmorgen bei der Verkündung der Ergebnisse zur "Breakfast Time" als Sieger aus der Propagandaschlacht hervorgehen wird. Die Vorhersagen sind jedenfalls "too close to call", wie die Meinungsforscher hier in Edinburgh sagen.

Graswurzelbewegung gegen Londoner Obrigkeit

Blau-weiße Buttons an zahlreichen Mantelkrägen, selbst gebastelte "Vote Yes"-Plakate in den Fenstern. Männer im Kilt, schottische Flaggen schwingend: Den Kampf um Sichtbarkeit hat die "Yes"-Kampagne eindeutig gewonnen.

Doch ständig steht die Frage im Raum, ob es nicht eine unsichtbare Mehrheit gibt, die zuletzt lachen wird. Die "Yes"-Kampagne ist eine Art Graswurzelbewegung, die SNP-Chef Salmond ins Leben gerufen hat. Sie versucht mit Info-Tischen, vor allem aber mit intensivem Einsatz der sozialen Medien, die "Weg von London"-Message unters Volk zu bringen. Die politische Klasse in der britischen Hauptstadt ist der Gegner, auch die Medien, inklusive der altehrwürdigen BBC, haben sich klar auf die Seite derer geschlagen, die das Vereinigte Königreich erhalten wollen. David Cameron, Premier, Konservativer und Prototyp des englischen "leading dog", der teure Privatschulen besucht hat, ist hier das Feinbild Nummer eins.

Dass Cameron die Schotten zuletzt regelrecht auf Knien angebettelt hat, die Union nicht zu verlassen, wird mit einem Grinsen quittiert. Brian etwa, der im Zentrum von Edinburgh vor einem "Sack the Tories"-Plakat steht, glaubt dem Premier in London kein Wort. "Jetzt macht er große Versprechungen, nur um uns zu ködern", sagt er. "Das hat er nachher schnell wieder vergessen."

Cameron meinte sinngemäß, er wisse schon, dass er hier in Schottland das große Hassobjekt sei - trotzdem sollten die Schotten nicht ihrer momentanen Wut folgen, sondern die langfristigen Folgen einer Scheidung bedenken. Er werde nicht ewig im Amt sein, so Cameron, ein "Yes" zur Unabhängigkeit von London sei aber endgültig. Die führenden Zeitungen assistieren ihm: Im "Economist", in der "New York Times" und der "Financial Times" warnen die Kolumnisten vor den desaströsen wirtschaftlichen Folgen, die eine Abspaltung für Schottland und für Rumpf-England hätten.

Im Finale des Wahlkampfes wurde um das Gesundheitswesen gestritten - der Diskurs ist symptomatisch für die gesamte Trennungsdebatte: Salmond warf Westminster vor, Schottland werde bald gezwungen sein, ein tiefes Finanzierungsloch zu stopfen. "Glatte Lüge", entgegnete Ex-Premier Gordon Brown, der als Labour-Mann und grimmiger Schotte eigens für die "No"-Kampagne aus der politischen Versenkung geholt worden war. Die Regionalregierung in Edinburgh - die nationalistische SNP hat dort die absolute Mehrheit - könne sich nicht als großer Retter des heimischen Gesundheitswesens darstellen, da Schottland in diesem Bereich längst die Oberhoheit habe, so Brown.

"Wir wollen über unser eigenes Schicksal bestimmen"

Diese Argumente beeindrucken Brian nicht, er steht hinter einem Holztisch und verteilt Info-Broschüren. "Es geht darum, dass wir hier über unser eigenes Schicksal bestimmen wollen", erklärt er. Das würde bedeuten: "Mehr Jobs, mehr Geld und mehr Rechte für Schottland." Eine bewachte Grenze zwischen Schottland und England werde es nicht geben, zumindest, wenn es nach ihm gehe.

Nicht weit entfernt, direkt vor der Statue des Napoleon-Bezwingers General Wellington, steht ein Mann, der das nicht so sieht: "Bitte, verlasst uns nicht", steht auf dem Plakat, das er um den Rücken geschnallt hat. "Die Welt braucht Großbritannien", meint er. Und: "Großbritannien braucht die Schotten." Gemeinsam könne man auf der internationalen Bühne für das Gute eintreten. Er selbst ist optimistisch, dass die Schotten mit "Nein" stimmen.

Doch bevor es so weit ist, haben die Demoskopen das Sagen. Die letzte Umfrage weist darauf hin, dass das "Ja"-Lager in den vergangenen Tagen weiter zulegen konnte, die Gegner einer Sezession aber immer noch in Führung liegen. Unter denen, die sich für ein Lager entschieden haben, waren zuletzt 48 Prozent für die Unabhängigkeit, 52 Prozent dagegen.

Salmond beschwörtseine Landsleute

Damit haben die Abspalter weitere drei Prozentpunkte dazugewonnen, das "Nein"-Lager hat drei Prozentpunkte verloren. Die große Frage ist, wie sich die unentschiedenen 14 Prozent entscheiden werden. Klar ist, dass die Zeit auf Seite des "Ja"-Lagers steht, das in den Umfragen immer stärker zulegen konnte. Klar ist auch, dass die, die einen unabhängigen schottischen Staat wollen, stärker motiviert sind. Überhaupt ist die Wahlbegeisterung auf beiden Seiten extrem hoch, 97 Prozent der Schotten haben sich für das Votum registrieren lassen.

Am Ende könnten es die Frauen sein, die den Ausschlag geben: Mehr Frauen als Männer sind noch unentschlossen, und Frauen stehen einer schottischen Unabhängigkeit tendenziell kritischer gegenüber als Männer. Dazu kommt, dass fast die Hälfte der Schotten überzeugt ist, dass das Parlament in Edinburgh im Fall einer Ablehnung der Unabhängigkeit mehr Kompetenzen erhalten werde - wie es von Tories, Labour und Liberalen versprochen wurde. Da fällt es etwas leichter, nein zu sagen.

SNP-Chef Salmond weiß das. Er hat am Mittwoch zum letzten großen Schlag ausgeholt: Es sei eine einzigartige, historische Chance, die die Schotten in die Hand bekämen, beschwor er seine Landsleute. Eine Chance, die nicht wiederkomme.

Der Ablauf des Votums

Die Wahllokale sind am Donnerstag von 08.00 bis 23.00 Uhr geöffnet.

Wählen darf jeder, der das 16. Lebensjahr vollendet hat, Brite, Bürger der Europäischen Union oder des Commonwealth ist, offiziell in Schottland lebt und sich für die Wahl registrieren lassen hat. Schotten im Ausland können keine Stimme abgeben.

Fast 4,3 Millionen Menschen haben sich registrieren lassen. Das entspricht einer Wählerschaft von 97 Prozent der Bevölkerung über 16 Jahren.

Auf den Wahlzetteln steht die Frage "Sollte Schottland ein unabhängiges Land sein?" sowie die Antworten "Ja" oder "Nein".

Offiziell wird der Ausgang erst verkündet, wenn die Auszählungen aus allen Wahlbezirken vorliegen. Sie werden nach und nach verlesen, so dass sich ein Trend ablesen lässt.

Mit ersten Ergebnissen wird am Freitag gegen 03.00 Uhr gerechnet. Die Resultate aus Glasgow, Edinburgh und Aberdeen werden aber nicht vor 06.00 Uhr früh erwartet. Der Wahlkommission zufolge dürfte "zur Frühstückszeit" am Freitag ein landesweites Ergebnis feststehen.

Das Referendum - eine Übersicht