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Stilles Leid

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

In der Ostukraine flammen die Kämpfe erneut auf.


Kiew. Knapp 830.000 Menschen sind über die vergangenen Monate aus den umkämpften Gebieten in der Ukraine geflohen - die Hälfte von ihnen nach Russland, die andere Hälfte innerhalb des Landes, schätzt das UN-Büro für die Koordinierung von humanitären Angelegenheiten. Seit den umstrittenen Wahlen in der Ostukraine, die von den Aufständischen trotz massiver Kritik aus Kiew und dem Westen organisiert wurden, hat sich die Lage in der Krisenregion erneut verschärft. Die Aussicht auf Frieden ist wieder gesunken. Für hunderttausende Flüchtlinge in der Ukraine schwindet damit auch die Hoffnung, bald in ihre Heimat zurückzukehren.

Für viele ist eine Rückkehr eine existenzielle Frage. Wie für Maksim. Als Koordinator eines ukrainischen Kulturzentrums in der Nähe von Donezk wurde der Mittdreißiger zur Persona non grata im Separatistenstaat. Er floh schon im Frühling nach Kiew, wo er sich seither durchschlägt. "Ich habe keine Wohnung und keine bezahlte Arbeit", klagt er. "Ich habe zwar ein paar Ersparnisse, doch die neigen sich schön langsam dem Ende zu." Solange die Separatisten im Donezker Gebiet herrschen, kommt eine Rückkehr für ihn nicht infrage. "Im Internet wurde ganz unverhohlen damit gedroht, mich umzubringen", sagt Maksim.

Viele Ostukrainer haben ihre Heimat in dem Glauben verlassen, bald zurückzukehren. Auf den Bahnhöfen von Kiew und Lemberg kamen sie in Sandalen, Shorts und Sommerkleidern an, doch jetzt kommt der Winter. "Als wir geflüchtet sind, hat die ukrainische Führung zu uns gesagt: In einem Monat haben wir diese Separatisten erledigt, und dann könnt ihr wieder heim" sagt Gennadij Kobzar, ein IT-Unternehmer aus Donezk. "Wenn man weiß, dass das nur vorübergehend ist - dann stellt man sich darauf ein. Aber wenn aus Wochen Monate werden - oder sogar Jahre? Was dann?"

Die Flüchtlingsströme trafen die ukrainischen Behörden völlig unvorbereitet. Beobachter gehen davon aus, dass eine humanitäre Katastrophe nur durch das Engagement von Freiwilligenorganisationen vermieden wurde. So hätten allein bei der Kiewer Hilfsorganisation "Wostok SOS" 11.000 Flüchtlinge um Hilfe angesucht. Mehr als 7000 Familien wurden bei Privaten untergebracht, erklärt Natalja Udowenko, Mitarbeiterin bei Wostok SOS. Das war ursprünglich freilich nur als Notfalllösung gedacht. Flüchtlingsunterkünfte würden für "maximal zwei Monate" vermittelt, heißt es auf der Homepage der Organisation. Der Konflikt im Osten dauert nun bereits als acht Monate an.

Kürzung der Sozialleistungen

Zuletzt hat der Flüchtlingsstrom etwas nachgelassen: In der Hochphase des Krieges - also im Juli und August - klingelte bei Wostok bis zu 800 Mal täglich das Telefon. Seit dem Friedensabkommen im September sind es nur noch 200 Anrufe, schätzen die Mitarbeiter. Eine Entspannung ist dennoch nicht in Sicht: So hat der ukrainische Premier Arsenij Jazenjuk angekündigt, die Sozialleistungen in den umkämpften Gebieten einzustellen, was die Lage für viele noch weiter verschlechtern dürfte.

Oksana Jermischina war es schließlich leid, dass alles nur kurzfristig und über ihren Kopf hinweg entschieden wird. "Der Premier hat schon im Juni versprochen, ein Register für arbeitssuchende Flüchtlinge anzulegen", erinnert sie sich. Als sie im Oktober gehört habe, dass noch nicht einmal entschieden sei, wie, sei sie schockiert gewesen. "Mir wurde klar, dass wir selber etwas machen müssen." Gemeinsam mit anderen Flüchtlingen wie Gennadij Kobzar hat sie das "Komitee für Binnenflüchtlinge" gegründet. "Uns ist klar, dass wir alles verloren haben. Damit haben wir uns schon abgefunden. Was wir jetzt unbedingt brauchen, ist eine Perspektive."

Enttäuschung über Kiew

Das Komitee schickte einen Forderungskatalog an die Regierung. Statt Spenden und Almosen fordern sie gezielte Förderprogramme, billige Kredite für Start-ups und Erleichterungen bei der Bürokratie. Sie wollen das Bild vom hilfsbedürftigen Binnenflüchtling loswerden, der die Hand aufhält - sie wollen selbstbewusste Bürger sein, die ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen.

Wie der Staat mit den Binnenflüchtlingen umgeht, davon hänge à la longue auch der soziale Frieden des gesamten Landes ab, sagt Gennadij. "Die Leute aus dem Donbass, die sich bewusst für die Ukraine entschieden haben, sind hierhergekommen und haben gesehen, dass sie der Staat vollkommen im Stich lässt." Viele würden Kiew enttäuscht den Rücken kehren - in doppelter Hinsicht, warnen die Komitee-Mitglieder: Sie würden wieder in den Donbass zurückkehren, in schreckliche Bedingungen: ohne Strom, ohne Mobilfunknetz und ohne Arbeit. Aber auch ohne Patriotismus.

Maksim hat zuletzt in Kiew ein Projekt gestartet, um kranke Flüchtlingskinder aus dem Osten mit Medikamenten zu versorgen. Das sei aber gar nicht so leicht. "Sie kommen nicht zu uns - wir müssen sie über Bekannte und Netzwerke aufstöbern", sagt er. "Viele Familien schämen sich für ihre Lage und fragen erst gar nicht um Hilfe", seufzt Maksim. Manchmal ist das stille Leid sogar für diejenigen, die genau hinhören, zu leise.