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"Putins Russland hat keine Zukunftsvision"

Von Veronika Eschbacher

Politik

Die russische Politanalystin Maria Lipman über den Sonderweg Russlands.


"Wiener Zeitung": Sie haben in Wien einen Vortrag über die Ideologie der Führung des russischen Präsidenten Wladimir Putin gehalten. Wie würden Sie diese beschreiben?Maria Lipman: Dazu muss man auch die Frage beantworten, was eine Ideologie ist. Russland ist der Nachfolgestaat der Sowjetunion, die ein ideologischer Staat war. In der Sowjetunion gab es eine klar definierte Ideologie, die auf Doktrinen aufgebaut war. Es gab ein Zentrum der Ausarbeitung der Ideologie, die Ideologieabteilung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, die die richtige Auffassung, die sich auf den Leninismus-Marxismus stützte, übersetzte und diese in alle Fragen übertrug, von oben bis nach unten - sei es Kunst, Außenpolitik oder Gesellschaftsleben.

Heute gibt es nichts dergleichen, das was ich beschrieben habe, ist Totalitarismus. Nichtsdestotrotz hat vor allem in Putins jetziger Amtsperiode das Regime die Verwendung ideologischer Ressourcen merklich intensiviert, sei es mit Symbolen, Werten oder der Frage der nationalen Identität. Heute versuchen der Staat, Putin selbst und verschiedenartige staatliche Akteure, korrekte Sichtweisen anzubieten, etwa eine richtige Geschichtsdeutung, eine korrekte Kulturpolitik. Der russischer Soziologe Boris Dubin hat Russland in den 2000er-Jahren als einen Staat beschrieben, der sich den Menschen nicht aufdrängt. Diese Zeit ist vorbei. Der Staat hat aktiv begonnen, der Bevölkerung seine Linie öffentlich aufzudrängen.

Worin besteht diese ideologisch-politische Linie?

Sie beinhaltet das Bild Russlands als Großmacht - das gab es auch schon früher, aber wird nun mit mehr Nachdruck hervorgehoben; eine sehr harte antiwestliche Linie; die Nichtannahme alles Fremden, das uns unähnlich ist; aber auch sozialer Konservatismus. Die Arbeit des Staates innerhalb dieser Ideen- und Symbolsphäre, und das ist wichtig, stützt sich auf bereits in der Gesellschaft vorhandene Vorstellungen, auf Sichtweisen, die von der Mehrheit geteilt werden. Und das bestimmt auch ihre bemerkenswerte Effektivität, denn der Staat hängt den Menschen keine Vorstellungen um, an die die Gesellschaft überhaupt nicht glaubt. Der Staat spielt bewusst die Tasten, von denen er weiß, dass sie funktionieren.

Und die Linie wird über Massenmedien, aber immer mehr auch durch Gesetze verbreitet.

In erster Linie über das Fernsehen. In den 2000er-Jahren waren all die vorher genannten Elemente noch reine Rhetorik. Mittlerweile sind sie im politischen Kurs gelandet. Und ja, alle diese ideologischen Elemente werden auf die eine oder andere Art in Gesetzesnormen verwandelt. Nehmen wir das Gesetz, das Kritik an Handlungen der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg verbietet. Das ist ein Versuch, eine bestimmte Geschichtssicht aufzudrängen und zusätzlich die zu bestrafen, die nicht die richtige Deutung teilen. Der soziale Konservatismus etwa wird verwandelt in das Anti-Homosexuellen-Gesetz oder das Gesetz, das die Verwendung von Schimpfwörtern in Massenmedien untersagt. In den vergangenen zwei Jahren gab es eine Unzahl von anti-liberalen, konservativen neuen Normen, die alle sehr schnell beschlossen wurden. Und jedes anti-liberale Gesetz wurde in Umfragen von der Bevölkerung mit rund 80 Prozent begrüßt.

Woher kommt dieser Konservatismus plötzlich?

Die ersten konservativen Gesetze wurden 2012 erlassen, viele mehr folgten 2013. Ein Grund dafür war, dass sich in den 2000er-Jahren mit relativer Freiheit ein Teil der Gesellschaft für andere Normen und neue Werte interessierte. Es war genau dieser Teil der Gesellschaft, der 2011 gegen die Amoralität der Regierung protestierte, gegen Ungleichheit, Korruption. Die Politik der Nichteinmischung des Staates war damit erledigt. Als Antwort auf die Proteste wurde mit "ideologischer" Arbeit begonnen. Der Kreml begann, die Protestbewegung als ausländische Agenten zu diskreditieren, als amoralische Menschen, die "unsere" nicht-konservativen Werte bedrohen. Die Liberalen sind heute völlig marginalisiert und demoralisiert. Den frei gewordenen Platz nehmen immer mehr anti-liberale Figuren ein, etwa Alexander Dugin oder Alexander Prochanow. Aggressive, expansionistische, hart anti-liberale und anti-westliche Positionen sind heute im Mainstream. Ein weiterer Grund ist, dass bereits 2013 spürbar wurde, dass die Wirtschaft nachlässt und der Staat nicht mehr unbegrenzte wirtschaftliche Möglichkeiten hat, die Stabilität garantieren.

Putin liebt es, Russlands "Sonderweg" zu betonen, dass man anders ist als andere. Was bedeutet das?

Die Formel "Sonderweg" selbst erfreut sich größter Beliebtheit und Unterstützung bei den Russen. Aber was der genaue Inhalt ist, darauf gibt es keine Antwort. Wenn man beginnt, sie auszuformulieren, stellt sich heraus, dass es nichts zu sagen gibt. Was ist spezifisch russisch? Weder Patriotismus noch Konservatismus. Auch nicht Christentum, auch nicht das orthodoxe Christentum. Und wenn man von einer Konfrontation der russischen Werte mit denen des Westens spricht, geht sich das auch nicht aus. Es wird heute vermehrt versucht, zu unterstreichen, Russland hätte traditionelle Werte. Dafür gibt es doch auch keine Anhaltspunkte, man sehe sich die Rolle der Frau an in Russland, das Verhältnis zu Scheidungen, zum vorehelichen oder außerehelichen Sex. Bei uns werden Präservative in jedem Geschäft verkauft, und sie liegen zwischen Kaugummi und Schokolade direkt bei der Kasse. Der "Sonderweg" wird noch am ehesten negativ formuliert, indem gesagt wird: Der Westen ist verdorben, wir aber haben Moral. Aber warum sind wir moralischer? Man denke alleine daran, wie viele Gewaltverbrechen, häusliche Gewalt, wie viele Waisen es in Russland gibt. Der Islam hat einen gänzlich anderen Wertekatalog. Einzig im Umgang mit Homosexuellen unterscheidet sich Russland vom Westen.

Wie sieht die Zukunft von Putins Russland aus?

Das ist heute noch weniger klar als früher. Als sich nach dem Zerfall der Sowjetunion osteuropäische Länder der "Rückkehr nach Europa" gewidmet haben, war das für Russland keine Variante. Russland ist zu groß, um "bloß" Teil von etwas zu werden. Gleichzeitig konnte Russland aber auch nicht genug Attraktivität entwickeln, um Zentrum einer eigenen Vereinigung zu werden. Das Projekt Eurasische Union hat ohne die Ukraine, gelinde gesagt, Schwierigkeiten. Heute kursiert zwar dafür die Idee der "Russischen Welt" verstärkt. Aber für wen ist sie interessant? Niemand, der sich dazu zählen könnte, hat die Positionen Russlands etwa in der Krim-Frage unterstützt. Sprach Ex-Präsident Dmitrij Medwedew noch von Modernisierung, gibt es heute überhaupt keine Zukunftsvision mehr.

Sehen sich die Russen im jetzigen Ukraine-Konflikt mit dem Westen als Aggressor oder als Opfer?

Als Aggressor auf keinen Fall. Im Gegenteil: Die Russen fühlen sich zweifellos im Recht. Die Position, Russland handle richtig und dem einzigen möglichen Weg folgend, teilt ein riesiger Bevölkerungsanteil. Genauso wie das Gefühl, man habe Gerechtigkeit hergestellt und dass Russland die "Unsrigen", wer auch immer das genau sein mag, vom Faschismus verteidigt. Der darin enthaltene Bezug zum Zweiten Weltkrieg verstärkt das Gefühl der Richtigkeit erneut. Aber auch die Euphorie, die die Nation nach der Annexion der Krim - oder wie es hieß: nach ihrer "Rückkehr" - erlebte, verlieh ein Gefühl der Richtigkeit, denn es gab der Nation auch dieses Gefühl, "dass wir es tun können" - denn der Westen hat kein Mittel, uns aufzuhalten, wir haben endlich wieder einen Platz in der Welt eingenommen, niemand konnte Putin zwingen, auf die Annexion der Krim zu verzichten. Freilich wissen wir gleichzeitig, dass wir irgendwas irgendwie verletzt haben.

Und ob sich Russland als Opfer fühlt? Nun, Russland hat heute weit stärker als früher das Eigengefühl und Selbstverständnis einer belagerten Festung. Wir sind umzingelt von Feinden, alle bedrohen uns, wir dürfen nicht vergessen, dass jeder uns Böses will. Opfer ist der falsche Ausdruck. Im Gegenteil, es herrscht das Gefühl: Wir haben einen Teil unserer sowjetischen Stärke wiederhergestellt. Wir werden gefürchtet, sie können uns nicht zwingen, unsere Politik zu ändern, also bedeutet das, dass man uns achtet.

Zur Person

Maria

Lipman

Die russische Politanalystin und ehemalige Chefredakteurin des Policy-Journals des Moskauer Think Tanks Carnegie Center ist derzeit auf Einladung des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) auf Studienaufenthalt in Wien.