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Im Umbruch

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Analyse: Die antieuropäische Ukip erhält in Großbritannien Zulauf von links und rechts. Und progressive Parteien graben Labour das Wasser ab.


London. In der britischen Politik ist einiges in Bewegung gekommen. Der Nachwahl-Sieg, den die Unabhängigkeits-Partei Ukip am Freitag feierte, war für die Rechtspopulisten nicht nur ein neuer kleiner Etappen-Erfolg. Er war mehr als das. Er ließ tiefer blicken. Er war ein deutliches Zeichen dafür, welches Maß der Verdruss mit sämtlichen "Westminster-Parteien" auf der Insel inzwischen erreicht hat - und dass keine dieser Parteien ein Mittel gefunden hat, diesen Unmut abzubauen und den Vormarsch Ukips aufzuhalten.

Was einmal eine vielbelächelte kleine Anti-Brüssel-Lobby war, hat sich von einem Rinnsal zu einem Protest-Strom gegen Europa, gegen Einwanderung und überhaupt gegen "das Establishment" entwickelt. Schon aus den EU-Parlaments-Wahlen im Mai dieses Jahres ging Ukip ja als Siegerin hervor. Mit dem Übertritt zweier Tory-Abgeordneter zu Nigel Farages Partei begannen sich im Sommer erste Risse im Regierungslager abzuzeichnen. Beide Überläufer haben seither in Nachwahlen problemlos als Ukip-Novizen triumphiert.

Nachahmen erfolglos

Und Rochester, das Schlachtfeld dieser Woche, eine florierende Stadt im englischen Südosten, kann nicht einmal als typisches Ukip-Terrain gelten. Ihre ganze mächtige Parteimaschinerie brachten die Konservativen zum Einsatz dort. Dennoch fiel auch dieser Wahlkreis ohne weiteres an Ukip. Damit werden die Spannungen im Tory-Lager nicht geringer. David Cameron sieht sich in der eigenen Fraktion einer Menge Zweiflern gegenüber, was die Unterhauswahlen im kommenden Mai betrifft.

Klar hat Rochester gemacht, dass der Plan der Tory-Führung nicht aufgegangen ist, Ukip durch bloße Nachahmung Stimmen abzujagen. Versucht haben das Cameron und einige seiner Minister ja. Die zunehmend nationalistische Rhetorik und immer neue Anti-Immigrations-Maßnahmen in Downing Street haben die wachsende Wählersympathie für Farages Partei aber nicht erschüttern können.

Trotz eines Wahlsystems, das "die Großen" durch und durch begünstigt, könnten die Rechtspopulisten bei den Wahlen im Mai auf 20 Sitze oder auf noch mehr kommen. Und das macht nicht nur vielen Tories bang. Auch Labour, die eigentliche Oppositionspartei, hat keine Strategie gegen Ukip entwickeln können. Frustrierte Ex-Labour-Wähler aus der Arbeiterschaft Englands stimmen für die Unabhängigkeits-Partei jetzt ebenso wie Anti-Europäer und Rechtsnationale konservativer Provenienz.

Zugleich sieht sich die Labour Party von links her angegriffen. Die Grünen und vor allem die schottischen Nationalisten graben ihr mit progressiven Programmen das Wasser ab. Labour wird als zu elitär und zu volksfern empfunden, um noch als echte Hoffnungsträgerin wahrgenommen zu werden. Das schließt Oppositionsführer Ed Miliband ein.

Zunehmend glaubt man in London dieser Tage, dass Britannien sich unweigerlich auf dem Weg zu einem Vielparteien-Parlament und zu künftigen komplexen Regierungsbündnissen befindet. Die Koalition der letzten fünf Jahre, aus Konservativen und Liberaldemokraten, wäre so nur der Anfang gewesen. Gestern war schon die Rede davon, dass man bei der kommenden notwendigen Renovierung des Palastes von Westminster die alte Unterhaus-Kammer gleich in ein modernes, hufeisenförmiges Parlament umbauen solle.

Alte Klassen-Loyalitäten, wie sie fürs britische System typisch waren, sind ja schon lang in Auflösung begriffen. 1951 stimmten noch 97 Prozent aller Briten entweder für die Konservativen oder für Labour, die Arbeiterpartei. Heute kommen beide Parteien zusammen höchstens auf zwei Drittel aller Stimmen. Und wirtschaftliche Ungewissheit und drakonische Austeritätspolitik der letzten Jahre haben, wie anderswo in Europa, den Druck aufs Zentrum wesentlich verstärkt.

Die rechte und die linke Mitte, die auf einander bezogenen Gegenkräfte des 20.Jahrhunderts, scheinen diese Entwicklung nicht mehr bremsen zu können. Neue, radikalere Ideen an den Rändern finden auch im Vereinigten Königreich immer mehr Gehör. Auf der einen Seite wird mehr politische Selbstbestimmung, mehr Demokratie gefordert und die Herrschaft der Märkte in Zweifel gezogen. Auf der anderen sieht man das Heil in der Abkehr vom Kontinent, in der Rückkehr zu einer verklärten Welt stolzer Eigenständigkeit. In diese Richtung will Ukip die Briten führen. Dorthin ist, immer zuversichtlicher, Nigel Farage unterwegs.