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Die "unheimlichen Ökologen"

Von WZ-Korrespondent Andres Eberhard

Politik

Radikale Umweltschützer wollen mit einer Volksabstimmung die Zuwanderung in die Schweiz bremsen.


Bern. Dichtestress könnte das Wort des Jahres werden in der Schweiz. Oder das Unwort, je nachdem. Dichtestress steht für den Sorgeneintopf, der in den Schweizer Köpfen brodelt: die verstopften Züge, die Platznot in den Städten, der drohende Kollaps der Autobahnen. Am kommenden Sonntag entscheiden die Schweizer in einer Volksabstimmung über eine Vorlage, die das Alpenparadies vor den Folgen des rasanten Wachstums schützen soll.

Autobahn Zürich-Basel, Ausfahrt Effingen im Aargau. Straße und Bahn sorgen für eine der höchsten Verkehrsdichten in der Schweiz. Doch im Dorfkern ist es ruhig, ein Hügel verschluckt den Lärm. 600 Einwohner zählt das Dorf, Kühe grasen auf saftigen Wiesen, das Zentrum bilden ein paar aus der Zeit gefallene Bauernhäuser. Vor dem ehemaligen Schulhaus hängt an zwei Straßenlaternen ein Werbeblatt, farbig in A4 wie frisch aus dem Tintenstahldrucker. "9 statt 12 Millionen-Schweiz", steht darauf.

Drinnen füllt ein Helfer Briefkuverts mit Propagandamaterial für die kommende Volksabstimmung. Das Haus ist das Machtzentrum von Ecopop, einem Verein mit knapp 2000 Mitgliedern, der zurzeit das politische System der Schweiz ins Wanken bringt.

Ecopop: konservativ-ökologisch

Die Initianten wollen mit der Initiative "Stopp der Überbevölkerung" die Zuwanderung auf jährlich 0,2 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung beschränken. Angeblich wollen sie damit die Natur schützen, vor der Zubetonierung, vor dem Dichtestress, vor dem Kollaps.

Andreas Thommen steht vor dem Ecopop-Haus und sagt: "Ich finde ja gut, dass es Leute gibt, die gerne in der Stadt wohnen. Aber der Druck aufs Land steigt eben auch." Thommen ist 47 Jahre alt, Sekretär und Vorstandsmitglied von Ecopop. Das Ecopop-Haus ist auch sein Haus, hier laufen die Fäden zusammen.

Thommen verkörpert zwei Eigenschaften, die man für unvereinbar halten würde: das Ländlich-Konservative und das Alternativ-Ökologische. Er denkt als Ammann und damit höchster Effinger vor allem für seine 600 Leute. Er regt sich auf, dass Dorfladen, Bank und Post wegen den Konkurrenten Aldi und Lidl schließen mussten. Und ihn nerven die Red-Bull-Dosen im Wald, wenn er mit seinem Hund spazieren geht. Thommen ist aber auch ein Grüner, so steht es in seinem Parteibuch. Sein Haus teilt er nicht nur mit Frau und Kindern, sondern auch als WG mit zwei Untermietern. Im Garten leben Hühner, auf das Dach der angebauten Scheune hat er eine Solaranlage montiert.

"Das wäre schon was, wenn hier noch einmal Geschichte geschrieben wird", sagt Thommen. Denn in seinem Haus wohnte Anfang des 20. Jahrhunderts einer der einflussreichsten Männer der Schweiz: Professor Ernst Laur. Vier Jahrzehnte lang war er Direktor des Schweizer Bauernverbandes. Laur legte den Nährboden für die Entstehung der nationalkonservativen SVP. Kritiker warfen ihm eine "Blut-und-Boden-Ideologie" und Antisemitismus vor. Genau 50 Jahre nach seinem Tod versucht Thommen nun, in seine Fußstapfen zu treten.

Die konservativ-bäuerliche Denkweise ist eine Tradition von Ecopop. Die Angst vor der Überbevölkerung ist die andere. Gegründet wurde der Verein vor 40 Jahren - zu einer Zeit, als der Club of Rome vor den Grenzen des Wachstums und ein Schweizer Ökonom vor den Folgen einer Bevölkerungsexplosion warnte. Ecopop war lange nicht mehr als ein obskures Grüppchen radikaler Grüner, für die sich kaum jemand interessierte. Man war vielleicht anderer Meinung, hielt den Verein aber für harmlos. Bekannt wurde er erst mit der vor zwei Jahren eingereichten Volksinitiative, die nun zur Abstimmung kommt. Alle Parteien von links bis rechts bekämpfen die Vorlage, der Wirtschaftsverband gibt Millionen für eine breite Nein-Kampagne aus.

Prognose: knappes Nein

Auch wenn Umfragen ein knappes Nein voraussagen: Die Initiative wirft ein schlechtes Licht auf die Demokratie und die politische Kultur in der Schweiz. Radikal-bürgerliche Vorlagen sind im Trend. Und sie sind mehrheitsfähig. Erst im Februar stimmten die Schweizer der Initiative gegen Masseneinwanderung der rechtspopulistischen SVP zu. Sie stellte die bilateralen Verträge der Schweiz mit der EU infrage. Ebenfalls per Volksabstimmung entschieden die Eidgenossen in den letzten Jahren, dass Muslime heute in der Schweiz keine Minarette mehr bauen dürfen oder dass schwere Sexualstraftäter in jedem Fall lebenslang weggesperrt werden. Nun ist die Reihe an einem kleinen Verein von radikalen Ökologen.

Balthasar Glättli hat sich am Zürcher Hauptbahnhof mit hunderten von Leuten in den Zug gedrängt, es ist Samstag nach Ladenschluss. Von wegen Dichtestress: "Städtisches Leben hat doch Qualität", sagt er. Glättli, 42 Jahre alt, trägt ein feines Hemd, mit der eckigen Akademiker-Brille und dem grünen Schal gibt er ein paar stereotype Hinweise auf seine politische Gesinnung. Glättli ist Chef der Grünen Fraktion im Parlament. Er ist auf dem Weg in eine Kleinstadt unweit von Zürich, wo er in einem Jugendzentrum aus seinem neuen Buch vorlesen wird. Es ist ein Buch über Ecopop, eine Kampfschrift gegen die Vorlage. Der Titel: "Die unheimlichen Ökologen".

Glättli schaut aus dem Fenster, an dem die Zürcher Agglomeration vorbeizieht. "Theoretisch könnte man die ganze Schweiz im Kanton Zürich unterbringen", sagt er. "Die Lösung heißt nicht Wolkenkratzer bauen. Sondern verdichten." Für seine Gegner heißt die Lösung eher: abdichten. Acht Millionen Einwohner hat die Schweiz. Rund 80.000 Immigranten kommen zurzeit pro Jahr, viele von ihnen hoch qualifizierte Fachkräfte. Auch rund 40.000 Österreicher leben und arbeiten derzeit im Nachbarstaat. Würde die Vorlage angenommen, dürften pro Jahr nicht mehr als etwa 16.000 Personen immigrieren. Experten gehen von einem massiven Schlag für die Schweizer Wirtschaft aus. Es wären die Grenzen des Wachstums, endgültig.

Der Abend im Jugendzentrum ist kulturell-festlich, eine Slam-Poetin eröffnet ihn. "Massen, schleichend, fremd sind im Trend", reimt sie. "Ecopop, zackig und laut, so was hört man heut." Ihr hilft bloß noch Ironie. Glättli aber wird ernst, als er sich an den Tisch auf der Bühne setzt. Er glaubt, durch Intellekt und Argumente überzeugen zu können. Die Sorge vor Überbevölkerung gehe zurück bis in die Zeit der Französischen Revolution und Thomas Malthus. "Damals bekämpften die Reichen die Armen statt die Armut." Die Gäste nippen an ihren Weingläser und nicken. Anschließend bleibt Glättli sitzen und diskutiert mit den Gästen, vorwiegend Grünen. Er sagt, dass seine Partei die Sorgen der Initianten teilt. Über das Wirtschaftswachstum, über die Zersiedelung. Doch die Vorlage sei fremdenfeindlich und bringe weitere soziale Nachteile: "Die Unternehmen werden auf Grenzgänger ausweichen." Das führe zu Lohndumping und mehr Verkehr.

Gegner bezeichneten die Initianten von Ecopop als "Birkenstock-Rassisten" und "Öko-Faschisten". Glättli, der Grünen-Chef, ist vorsichtiger. Für ihn sind es die "unheimlichen Ökologen". Was er von Ecopop hält, macht Glättli aber auch so sehr deutlich. "Das Buch stellt dar, in welche letztlich menschenfeindlichen Denktraditionen sich die bevölkerungspolitisch orientierten Ökologen einreihen", schreibt er schon im Klappentext.

Kondome für die Dritte Welt

Andreas Thommen wird rasend, wenn man auf Glättlis Buch zu sprechen kommt. Er zitiert aus einem Gastbeitrag, der davon handelt, dass die USA im Kalten Krieg versucht hätten, in Indien Verhütung zu predigen. Dies hätten sie getan, steht im Buch, weil mit steigender Bevölkerung die Gefahr einer kommunistischen Revolutionen steigt. "Das sind doch Verschwörungstheorien", sagt Thommen.

Die Welt von Ecopop ist einfacher. Statt auf politisch-strategischer Ebene setzt der Verein auf pragmatische Lösungen. So stellt er in seiner Initiative neben der Beschränkung der Zuwanderung eine zweite Forderung: Mindestens zehn Prozent der Schweizer Entwicklungshilfsgelder sollen in die "freiwillige Familienplanung" fließen, steht in der Abstimmungsvorlage. Sprich: Die Grenzen dichtmachen und im Ausland Verhütung predigen, mit Kondomen nach Afrika oder Indien.

Vom kleinen Effingen aus wollen sie damit nicht nur das nationale, sondern auch gleich das globale Umweltproblem lösen. Vielleicht auch deswegen trifft es Thommen hart, wenn ihm Eugenik, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus vorgeworfen wird. Er sagt, er müsse wohl in seiner Rolle als Ammann bei der nächsten Gemeindeversammlung eine Erklärung abgeben. "Ich werde sagen, dass ich kein Rassist bin." Er klingt etwas hilflos, fast verzweifelt. Aber die Erklärung ist das Einzige, was er tun kann.