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Euphorie, Schock und großes Köpferollen

Von Michael Schmölzer

Politik

Entgegen allen Prognosen gewannen die konservativen Tories mit absoluter Mandatsmehrheit.


London. Auf das politische Erdbeben folgte das große Köpferollen. Nachdem die britischen Meinungsforscher unisono ein knappes Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Premier David Cameron und Labour-Chef Ed Miliband vorausgesagt hatten, trauten Millionen Briten am Tag nach der Wahl ihren Augen nicht: Vom angekündigten "hung parliament", einer unentschiedenen Lage in Westminster, konnte nicht die Rede sein. Die erwartete verzweifelte Suche der Parteien nach möglichen Koalitionspartnern war auch kein Thema mehr.

Vielmehr hatten die Tories scheinbar aus dem Nichts einen überzeugenden Sieg und die absolute Mehrheit im Parlament errungen. Labour musste die erhofften Zugewinne nicht nur ad acta legen, sondern verlor im Vergleich zur Wahl vor fünf Jahren deutlich. Die Liberaldemokraten - das war von den Auguren immerhin richtig prognostiziert worden - wurden vom Wähler abgestraft und in die relative Bedeutungslosigkeit verbannt. In Schottland gilt ab jetzt de facto das Ein-Parteien-System: Die Nationalpartei SNP, die die Abspaltung von Großbritannien betreibt, hat hier fast flächendeckend gewonnen. Und zwar in einer Deutlichkeit, die selbst die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon zunächst nicht glauben wollte. Das Ergebnis der Exit-Polls sei mit allerhöchster Vorsicht zu genießen, so Sturgeon Donnerstag Nacht per Twitter, so deutlich könne der Sieg realistischerweise gar nicht ausgefallen sein. Zwei Sitze weniger als zunächst angenommen waren es dann doch.

Alptraum für Labour

Bei Labour wollte man die böse Überraschung, die für die Roten einem Alptraum gleichkommt, zunächst nicht wahrhaben. Die Exit Polls seien schlichtweg falsch, hieß es hier und der Labour-Wahlkampfleiter, Schatten-Außenminister Douglas Alexander, war im gegenteiligen Fall sogar bereit, seinen Kilt zu essen. Als die Prognosen schließlich zur Gewissheit wurden, gab es bei den Konservativen kein Halten mehr. Cameron triumphierte vor seinen engsten Getreuen im Hauptquartier der Tories, ließ der Euphorie freien Lauf: Die Öffentlichkeit und die Meinungsforscher, alle wären sie falsch gelegen, jubelte der alte und neue Premierminister. In der Tat hatte man dem Premier zuletzt Fahrigkeit, eine Verschlechterung seiner rhetorischen Fähigkeiten und peinliche Patzer bei den Wahlauftritten zum Vorwurf gemacht. Doch davon war am Freitag keine Rede mehr: Es sei dies wohl der großartigste und süßeste Sieg, der vorstellbar sei, so Cameron.

Labour nagte an ihrer Niederlage. Und während der Enthusiasmus bei den Tories von Stunde zu Stunde sogar noch wuchs, brachen politische Welten in sich zusammen. Rücktritte erfolgten im Stakkato. "Red Ed" Miliband, glückloser Labour-Chef, nahm die Verantwortung auf sich und gleichzeitig seinen Hut als Parteivorsitzender. Seit 2010 hatte er diesen Posten inne, nachdem er seinen Bruder David in einem internen Machtkampf überflügelt hatte. Doch mit dem Wahlergebnis unterbot er sogar das schlechte Ergebnis von Labourmann und Ex-Premier Gordon Brown, der 2010 immerhin 258 Mandate geholt hatte. Jetzt wird es spannend sein zu beobachten, wer sich innerhalb der angeschlagenen Arbeiterpartei durchsetzen und Miliband beerben kann.

Liberale abgestraft

Dann musste der Chef der Liberaldemokraten und Vize-Regierungschef Nick Clegg die bitteren Konsequenzen aus seiner Schlappe ziehen. Er sprach vor Anhängern von einer "vernichtenden Niederlage", hatte zuvor auch das Wort von der "bösen Bestrafung" verwendet. In der Tat haben die Liberaldemokraten offenbar nur noch acht Mandate. 57 waren es bisher gewesen, die Liberalen als große Zukunftshoffnung und Reformkraft gehandelt worden. Doch wie im Fall der deutschen FDP bekam den britischen Liberalen die Rolle als Junior-Partner nicht. Sie bekamen die Unzufriedenheit vieler Briten mit der politischen Lage zu spüren; wurden abgestraft dafür, dass die britische Mittelschicht unter Cameron starke Einbußen erlitten hat. Die begeisterte pro-europäische Haltung hat auf der euroskeptischen Insel wenig Stimmen gebracht.

Auch der skeptischste aller britischen Euroskeptiker, Nigel Farage, überlebte den Tag nach der Wahl politisch nicht. Der Ukip-Vorsitzende, dessen Parteifreunde oft auf den unbedankten zweiten Platz kamen und dessen Fraktion landesweit mit 13 Prozent einen großen Zulauf hat, unterlag in seinem Wahlkreis South Thanet. Und zwar klar gegen einen konservativen Kandidaten. Bei der EU-Wahl war Ukip sogar auf 27 Prozent der Stimmen gekommen. Doch mit gerade einmal einem Parlamentsmandat ist Farage wohl der größte Verlierer des britischen Mehrheitswahlrechts mit seinem "The winner takes it all"-Prinzip. Dementsprechend harsch ist seine Kritik am Wahlsystem. Er hat seine Stellvertreterin, Suzanne Evans, als neue Parteichefin vorgeschlagen. Eine Rückkehr an den Parteivorsitz will Farage allerdings nicht ausschließen. Schließlich wird spätestens mit der Abstimmung über einen britischen EU-Austritt wieder massiv mit Ukip zu rechnen sein.

SNP erringt Platz an Sonne

Camerons Sieg ist beinahe absolut, den Platz an der Sonne muss er sich aber trotzdem teilen. Und zwar mit einer Frau - Nicola Sturgeon, der Chefin der nationalistischen SNP. Sie wird von den Medien als "Königin der Schotten" oder "gefährlichste Frau Großbritanniens" tituliert. Denn der SNP gelang es, die Zahl ihrer Abgeordneten in Westminster von sechs auf 56 fast zu verzehnfachen. Sturgeons Vorgänger im Amt des schottischen Regierungschefs, Polit-Haudegen Alex Salmod, hatte im September des Vorjahres noch eine bittere Niederlage einstecken müssen. Damals sprach sich eine Mehrheit der Schotten in einem Referendum gegen die Unabhängigkeit Schottlands aus. Die Angst-Propaganda, die von den Tories und der schottischen Labour-Partei geschürt worden war, hat viele Schotten davon abgehalten, mit Ja zu stimmen. Doch der Sieg bei der Wahl des Unterhauses kann als Triumph gewertet werden, der der bitteren Niederlage auf dem Fuße folgt und der Sache der schottischen Unabhängigkeit massiv Auftrieb verschafft.

Dazu kommt, dass Sturgeon auch in England über eine große Anhängerschaft verfügt. Viele schätzen ihre bissigen Angriffe auf die Sparpolitik Camerons. Ein zweites schottisches Unabhängigkeitsreferendum steht jetzt im Raum und die Tories werden die SNP, die drittstärkste Kraft im britischen Parlament, nicht gänzlich ignorieren können. Bei vielen Konservativen hat sich längst die Meinung breitgemacht, mit der SNP zögen nun die leibhaftigen Vaterlandsverräter in Westminster ein. Es gibt hier ernsthafte Überlegungen, dass man die SNP-Abgeordneten bei Angelegenheiten, die auch England betreffen, nicht mitstimmen lassen will.

Der Wahlerfolg der SNP sorgt auch für historische Begebenheiten. Mit den Nationalisten zieht das jüngste Parlamentsmitglied Großbritanniens seit dem Jahr 1667 in Westminster ein: Mhairi Black ist erst 20 Jahre alt, gewann den Wahlkreis Paisley and Renfrewshire South und warf just Douglas Alexander aus dem Rennen - jenen Labour-Wahlkampfmanager, der versprach, seinen Kilt zu verspeisen. Eine weitere schwer Demütigung für die ohnedies schon arg zerzauste Arbeiterpartei. Vor der Abstimmung hatte die Studentin Alexander einen "Karrierepolitiker" geschimpft - einen, der sich nie in seinem Wahlkreis habe sehen lassen. Ihren Kritikern, die ihr mangelnde Erfahrung vorwerfen, entgegnet sie, dass sie immerhin alt genug sei, um Steuern zu zahlen und in den Krieg zu ziehen. Zu ihrem bisherigen politischen Engagement gehört laut der Website der SNP der Kampf gegen den Irak-Krieg und die Arbeit für die Hilfsorganisation Oxfam. Zudem zählt Black zu den Schotten, die sich im vergangenen Jahr vehement für eine Abspaltung von Großbritannien eingesetzt haben.

Damit ist sie ganz auf Linie der SNP, deren vordringlichstes Ziel die Sezession ist. Jetzt sitzen die Schotten mit 56 Abgeordneten in der Höhle des Löwen, in Westminster. Dort werden sie auf die Sezession hinarbeiten, auch wenn Sturgeon beteuert, dass man das Wohl des ganzen Empire im Auge habe. Cameron, das ist fix, wird in den nächsten fünf Jahren mit Sicherheit so manche schlaflose Nacht über der Schottland-Frage verbringen.

Für die britische Politologin Melanie Sully war die Schottland-Frage auch in England wahlentscheidend. Vielen Engländern würde es nicht gefallen, dass die Schotten, obwohl sie nur 8 Prozent der Bevölkerung stellen, plötzlich in Westminster so ein großes Gewicht haben sollen. Cameron habe deutlich gemacht, dass er den Schoten Grenzen setzen will. Konservative und Labour hatten sich im Vorfeld der Wahl schon auf langwierige Koalitionsverhandlungen vorbereitet, gleich nach dem Bekanntwerden des Ergebnisses hätte mit einer groß angelegten PR-Kampagne Einfluss auf die öffentliche Meinung genommen werden sollen.

Versöhnliche Töne

All das ist durch den klaren Sieg David Camerons weggefallen. Zur späteren Mittagzeit trat er den zeremoniell wichtigen Weg zur englischen Queen in den Buckingham-Palace an. Bei der Rückkehr nach Downing Street 10 versuchte er, das "Disunited Kingdom", das er nun fünf Jahre regieren muss, zu einen. Er gab den "Vater der Völker", sprach Worte, die einen versöhnlichen Effekt haben sollten. Großbritannien könne zu einem Land gemacht werden, in dem jeder, der willens sei und die Arbeit nicht scheue, ein gutes Leben zu erwarten habe, so der Premier. "Wir sind dabei, in diesem Land etwas Einzigartiges zu schaffen. Wir werden als Partei einer Nation regieren", so Cameron, nachdem er von der Queen den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten hatte. Dann bekräftigte er, dass es ein Referendum über den britischen EU-Austritt geben werde.

Den Schotten, Walisern und Nordiren sicherte er mehr Einflussmöglichkeiten zu - ein Versprechen, das er schon nach dem Referendum von September abgegeben und nach Ansicht der Schotten nicht oder zu zögerlich eingehalten hatte. Denn die Schotten wollen volle fiskalische Autonomie - das ist Cameron nicht bereit zuzugestehen. Nicht nur die Schotten wollen Abstand von London. In Wales und Nordirland beobachtet man genau, welche Zugeständnisse hier gemacht werden - um dem Premier dann die eigenen Forderungen auf den Tisch zu knallen.