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"Das Land ist völlig polarisiert"

Von Ronald Schönhuber

Politik

Politanalyst Ekrem Güzeldere über den Wahlkampf in der Türkei, Erdogans Vorhaben und EU-Ambitionen des Landes.


"Wiener Zeitung": In der Vergangenheit hat die AKP einen Großteil ihres Erfolgs auch dem beeindruckenden Wirtschaftswachstum in der Türkei zu verdanken gehabt. Die Wähler honorierten, dass es auf einmal Jobs gab, wo vorher keine waren, und dass man mit harter Arbeit auch ein bisschen Wohlstand erreichen konnte. Nun stottert auf einmal die Konjunktur und die Arbeitslosigkeit liegt auf dem höchsten Niveau seit fünf Jahren. Hat die AKP nicht hier ein Problem bekommen, das schwerer wiegt als alle anderen?Ekrem Eddy Güzeldere: Auf jeden Fall sind der wirtschaftliche Aufschwung und die wirtschaftliche Stabilität bei den vorangegangenen Wahlen sehr wichtig gewesen. Inwieweit das einen Einfluss auf die kommende Wahl hat, wird man aber wohl erst nachher sagen können. Die Wirtschaft ist zwar noch nicht richtig eingebrochen, aber man merkt zum ersten Mal wirtschaftliche Schwierigkeiten - auch in den Hochburgen der AKP. Und sicher ist das nicht sehr hilfreich für die Partei.

Was beschäftigt denn die Menschen im Wahlkampf? War beispielsweise der massive Korruptionsskandal, der bis in die innersten AKP-Kreise durchgeschlagen hat, ein Thema für die Wähler?

Das Land ist so polarisiert, dass diese ganzen Skandale in der AKP-nahen Presse kaum vorkommen, in der Oppositions-Presse aber natürlich eine große Rolle spielen. Dort ist natürlich auch dieser noch nie da gewesene, unfaire Wahlkampf ein Thema. Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei greift ja der Präsident aktiv auf Seite einer Partei in den Wahlkampf ein. Gleichzeitig kommt die Opposition in staatlichen Medien aber auch bei großen privaten Medienkonzernen fast überhaupt nicht vor.

Warum wählen denn die Leute noch immer die AKP?

Der wirtschaftliche Aufschwung ist wie schon erwähnt ein ganz wichtiger Faktor. Die Menschen erinnern sich an die 90er Jahre, an viele schnell wechselnde Regierungen, die politische und wirtschaftliche Instabilität bedeuteten. Dann kam die große Banken- und Wirtschaftskrise 2001. Seit die AKP an der Regierung ist, ist es in jedem Fall für einen Großteil der Bevölkerung besser geworden. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt hat sich in dieser Zeit verdreifacht. Die ganze auf Konsum und Kommerz ausgelegte Wachstumspolitik ist zudem sichtbar bei den Menschen angekommen. Sie nutzen die neue Infrastruktur, die Flughäfen oder den Schnellzug zwischen Istanbul und Ankara. Und so lange das alles nicht spürbar einbricht, wird die AKP die mit Abstand größte Partei sein. Die Frage bei der jetzigen Wahl ist aber, ob sie nicht so viel verliert, dass sie nicht mehr die absolute Mehrheit hat.

Hat Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, der ja der eigentliche AKP-Spitzenkandidat ist, irgendeine Rolle in der Wahlauseinandersetzung gespielt oder geht es nach wie vor vor allem um Erdogan?

Auch wenn er das laut Verfassung nicht darf, tritt Erdogan so auf, als ob er in Personalunion Präsident und Ministerpräsident wäre. Davutoglu ist sehr aktiv im Wahlkampf und macht die offiziellen Wahlveranstaltungen der AKP. Die inoffizielle Wahlveranstaltungen des Präsidenten laufen hingegen zum Beispiel als Eröffnungen von Flughäfen, Einkaufszentren oder Wohnsiedlungen - und sie finden fast täglich statt. Erdogan hält dort Wahlkampfreden und attackiert vor allem die pro-kurdische HDP und die CHP als größte Oppositionspartei. Erdogan ist die absolut zentrale Figur dieser Bewegung und hat sie als Ministerpräsident über zwölf Jahre geprägt. Sehr deutlich hat sich auch schon gezeigt, dass Davutoglu versucht, Erdogan in Sachen Rhetorik und Auftreten zu kopieren.

Welche Rolle spielt denn heute noch die Gezi-Park-Protest-Bewegung, deren Aufbegehren gegen Erdogan vor zwei Jahren vor allem in Westeuropa sehr stark wahrgenommen wurde? Hat das AKP-Establishment diese Sache einfach ausgesessen?

Das hat tatsächlich deutlich weniger Wirkung gehabt, als man das vor zwei Jahren dachte. Ein Teil der Gezi-Bewegung - vor allem in Istanbul - findet sich in der HDP wieder, die ja zum ersten Mal wieder als Partei antritt und daher sehr viele Kandidaten außerhalb der kurdischen Provinzen hat.

Wie schätzen Sie die Chancen der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) ein, die ja derzeit einen wahren Schub erlebt. Woher kommt ihre plötzliche Popularität?

Die Strategie, landesweit anzutreten und weniger kurdisch, dafür aber mehr gesamttürkisch zu sein, hat sich bezahlt gemacht. Die Kandidaten kommen aus verschiedenen gesellschaftlichen Ecken. Es gibt Türken, Kurden und Araber, auf guten Listenplätzen finden sich auch drei Jesiden und ein assyrischer Christ ist ebenso mit dabei. Die beiden Spitzenkandidaten sind sehr beliebt und bieten eine glaubhafte und jüngere Alternative zu den althergebrachten Parteien. Und der Wahlkampf der HDP war bisher humorvoller, weniger aggressiv und konzilianter. Das alles hat dazu geführt, dass neben der Kernwählerschaft von sieben Prozent noch drei bis fünf Prozent dazugekommen sind. Und das würde reichen, um ins Parlament einziehen zu können.

Viele Kurden hatte in der Vergangenheit ja auch Erdogan beziehungsweise AKP gewählt.Die AKP wird vielleicht einige Stimmen bei den Kurden verlieren, auch weil einige bekannte Kurden, die früher bei der AKP waren, mittlerweile bei der HDP sind. Die AKP ist aber mit Sicherheit die zweitgrößte Partei unter den Kurden, vor allem die konservativen Wähler fühlen sich hier vertreten. Erdogan ist sich dessen auch sehr bewusst und ist sehr häufig mit dem ins Kurdische übersetzten Koran in den kurdischen Provinzen aufgetreten.

Gibt es bei den Kurden in Bezug auf die AKP nicht auch eine Enttäuschung, weil der Friedensprozess schon seit längerem stockt?

Das spielt eine Rolle bei den sowieso der HDP näherstehenden Kurden, die sich da wahrscheinlich mehr erhofft haben. Bei den Kurden, die bisher die AKP gewählt haben, ist das hingegen kein Hauptgrund, um eine andere Partei zu wählen.

Es gibt viele Stimmen, die meinen, nach einem Erfolg der AKP würde die Türkei einen noch autoritäreren Kurs einschlagen.

Davon muss man ausgehen. Erdogans Vorgehen und seine Methodik sind so aggressiv und polarisierend, dass er ein gutes Abschneiden als Rückwind verstehen würde, um noch härter auf die Opposition einzuschlagen. Auch für die Medien und die Zivilgesellschaft würde der Druck steigen.

Erdogan will die Türkei ja zu einer Präsidialdemokratie umbauen. Alle anderen Parteien sind dagegen, aber wie sieht das der kleine Mann auf der Straße?

Es gibt dazu ein paar Umfragen, die zeigen, dass etwa 70 Prozent der Türken gegen ein Präsidialsystem sind. Auch die AKP-Wähler sind mehrheitlich dagegen. Allerdings möchte Erdogan sich nicht mit den Befugnissen, die er derzeit als Präsident hat, zufrieden geben. Seit Mitte Februar macht er schon Wahlkampf in diese Richtung, um jene Mehrheiten im Parlament zu erreichen, die einen solchen Umbau der Verfassung ermöglichen und ihn auch de jure zum entscheidenden Mann machen.

Eine Möglichkeit zu so einem Verfassungsumbau wäre auch eine Volksabstimmung. Verfügt Erdogan über die notwendige Mobilisierungskraft, um hier die notwendigen 50 Prozent zu erreichen?

Auf jeden Fall wird es knapper und schwieriger werden, als beim letzten Referendum, als die AKP bei Verfassungsänderungen 58 Prozent Zustimmung erreicht hatte. Vielleicht wird man daher versuchen, dass in ein größeres Paket zu packen, das auch Dinge enthält, mit denen auch andere etwas anfangen können.

Wie sieht es mit den EU-Ambitionen der Türkei derzeit aus? Nach den europäischen Zurückweisungen hat es ja zuletzt schon so ausgesehen, als fühle sich das Land in der Rolle der eigenständigen und aufstrebenden Regionalmacht deutlich wohler.

EU-mäßig ist in den letzten Monaten, wenn nicht Jahren, nur sehr wenig passiert. Veränderungen könnten aber dann eintreten, wenn sich auf Zypern etwas tut. Falls dort eine Einigung in absehbarer Zeit greifbar wird, würde auch die Blockade von vielen Kapiteln in den EU-Beitrittsverhandlungen wegfallen. Es ist zwar so, dass sich ein Teil der Politiker in der Türkei mehr nach Süden und nach Osten orientiert. Aber nach wie vor ist eine Mehrheit der Bevölkerung und auch der Abgeordneten für einen Beitritt zur Europäischen Union.

Ekrem Eddy Güzeldere
lebt seit 2005 in Istanbul und ist seit 2013 selbstständiger Politanalyst. Davor war der gebürtige Deutsche viele Jahre lang für Think Tanks wie die Heinrich-Böll-Stiftung und die Europäische Stabilitätsinitiative tätig.